„Das Modell einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft droht krachend und folgenreich zu scheitern, wenn unsere Lehrkräfte verstummen.“

Nun also „Je suis Prof“. Nach „Je suis Charlie“ und „Je suis Paris“ trauert Frankreich wieder einmal nach einem islamistischen Anschlag und drückt mit diesem Slogan das kollektive Entsetzen über die Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty aus.

In Anbetracht einer langen Liste von Terrorakten eine traurige Routine, könnte man meinen. Doch dieser Terrorakt ist anders als die anderen Anschläge zuvor. Nicht allein, weil eine Enthauptung im Herzen Europas wie ein Rückfall in finsterste Zeiten anmutet. Dieser Anschlag hat eine besondere Qualität, denn er berührt den sensibelsten Bereich, den es in einer Gesellschaft gibt: Schulen. Hier sitzt die Gesellschaft von morgen. Hier begegnen sich täglich die verschiedensten religiösen, weltanschaulichen, kulturellen und ethnischen Hintergründe in einer unentrinnbaren Nähe. Nirgendwo anders kann ein gelungenes Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft besser eingeübt werden. Integrationsinstanz Schule.

Es ist eine anspruchsvolle, herausfordernde Aufgabe, die den Lehrkräften zukommt. Ihnen obliegt es, jungen Menschen die Werte zu vermitteln, an die wir glauben, die ihren Ausgang in der Französischen Revolution genommen haben, die in unseren Verfassungen festgeschrieben sind, die uns Freiheit geben. Unsere Lehrerinnen und Lehrer müssen Schülern – hier geborenen sowie zugewanderten – Offenheit, Dialogfähigkeit, Ambiguitätstoleranz, demokratische Werte und kulturelle Standards vermitteln. Hierzu gehört die Meinungsfreiheit, die sich auch in Karikaturen ausdrücken kann. Und genau an dieser Stelle kann der Terrorakt von Paris eine perfide Wirkung erzielen. Wie ein Gift, das man nicht riechen und schmecken kann, droht er zu bewirken, dass sich Lehrkräfte bei der Auseinandersetzung mit ihren Schülern zurücknehmen. Selbstzensur aus Angst vor möglichen Konsequenzen, die von Respektlosigkeit, über Beschimpfungen bis hin zu tätlichen Angriffen reichen können, wie Paris gezeigt hat.

Seit gut zehn Jahren arbeite ich als Dozent an der TU Braunschweig und als Fortbildner zum Thema Islam und Schule. Die Konflikte, die mir am häufigsten begegneten, bezogen sich meist auf die Teilnahme an Klassenfahrten oder am Sportunterricht, Fragen der Bekleidung, die Vereinbarkeit von schulischen Abläufen mit der Praxis des Ramadan oder den Handschlag, den männliche muslimische Schüler oder Väter den Lehrerinnen verweigerten. Auch von Antisemitismus oder vereinzelten Sympathiebekundungen für Terror wurde mir berichtet. Dies waren Fälle, die gleichsam betroffen wie besorgt gemacht haben und bei denen die Lehrkräfte und ich an die Grenzen der pädagogischen Wirkmacht gestoßen sind.

Doch Paris ist mehr. Das Modell einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft droht krachend und folgenreich zu scheitern, wenn unsere Lehrkräfte verstummen, aus Angst diffamiert oder attackiert zu werden; wenn sie den Streit meiden, weil nicht klar ist, welche Folgen eine kritische Positionierung haben kann. Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnte in diesem Zusammenhang vor einem „Klima der Einschüchterung“ und einer „Schere im Kopf“ bei Lehrkräften. Dazu darf es nicht kommen. Solch eine Entwicklung wäre ein Sieg des Islamismus. Die Ermordung Samuel Patys muss ein Weckruf sein – ein letzter. Nicht nur für Frankreich, auch für Deutschland, das selbst auf eine Reihe von islamistischen Terrorakten verweisen kann. Was also tun?

Unsere Gesellschaft hat ein ausgeprägtes Problembewusstsein gegenüber Rechtsextremismus und Antisemitismus entwickelt. Auch islamistische Bestrebungen müssen auf gleiche Widerstände treffen. Auf allen Ebenen der Gesellschaft muss verdeutlicht werden, dass die Spannung von Meinungsfreiheit und religiösem Befinden auszuhalten ist. Dazu braucht es eindeutige Positionierungen der Politik, der Zivilgesellschaft, hier beispielsweise von Medien, Kulturschaffenden oder Sportverbänden, und – ganz wichtig – Muslimen selbst. In Anbetracht von mehr als fünf Millionen Muslimen in Deutschland kann religiöser Extremismus nur mit Muslimen zusammen bekämpft werden. Hier müssen geeignete Partner identifiziert werden. Liberale Geister, die sich als Muslim und selbstverständlichen Teil der deutschen Gesellschaft verstehen, müssen das Wort ergreifen und sich organisieren.

Zu Recht kritisiert der Islamismus-Experte Ahmad Mansour, dass die Politik teilweise mit Islamverbänden kooperiert, die Integration erschweren, statt sie zu fördern. Auch sollte die Politik den Blick noch stärker auf die Schulen richten: Zuwanderungspolitik sollte auf die Aufnahmekapazitäten und Integrationskraft von Schulen abgestimmt werden. Lehrkräfte an besonders belasteten Schulen sollten eine Reduktion ihres Stundendeputats und strukturelle Unterstützung bekommen, Fortbildungen zur Gestaltung einer multireligiösen Schule regelmäßig angeboten werden, folgende Supervision eingeschlossen. Zudem muss das Thema Islam und Schule in den Curricula der lehrerbildenden Universitäten und Ausbildungsseminare fest verankert werden.

Ich bin sicher, dass sich der gesellschaftliche Frieden nicht zuletzt an der Frage der Integration von und des Zusammenlebens mit Muslimen entscheiden wird. Wenn der grausame Tod Samuel Patys nicht gänzlich umsonst gewesen sein soll, muss er als das verstanden werden, was er war – ein Weckruf!

Benjamin Franz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig. Er beschäftigt sich u.a. mit religiösem Extremismus. 2019 hat er das Buch „Islam und Schule“ herausgebracht.