„Dass die VW-Gesellschafter Herbert Diess fallen lassen ist ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass Bernd Osterloh die Krise durch einen Umsturz verschärft.“

Kummer, nimm erst Gestalt! Nur das Formlose ängstet und martert; hat sich der Feind mal gestellt, halb ist gewonnen der Sieg. Franz Grillparzer

Der große Vorzug der Literatur ist, dass sie unsere unübersichtliche, gelegentlich chaotische Realität in eine nachvollziehbare Ordnung, eine schlüssige Interpretation überführen kann. Der Schriftsteller genießt den Luxus, das Hin und Her, das Auf und Ab zu vernachlässigen. Dafür kann er, wenn er einen guten Job macht, unseren Blick fürs Wesentliche schärfen.

Der britische Schriftsteller Robert Harris etwa beschrieb in seinem Roman „The Ghost“ (deutscher Titel: Der Ghostwriter) das politische Geschäft aus der Perspektive eines unsichtbaren Helfers. Der soll die Autobiographie eines gerade abgetretenen Premierministers schreiben, just als dieser wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt wird. Im „Krieg gegen den Terror“ hatte der Premier terrorverdächtige britische Staatsbürger an die USA überstellen lassen, wo sie, so die Geschichte in Anlehnung an den echten Premier Tony Blair, gefoltert wurden. Die Mechanik des Regierens und das Dilemma seiner Moralität wird deutlich, weil Harris sich nicht mit parlamentarischen Abläufen, wankenden Mehrheiten oder Meinungsumfragen aufhalten muss.

Wer sich als Bürger unserer Region in dieses sehr lesenswerte Buch vertieft, kommt fast zwangsläufig zu der Frage, welchen Reim sich Harris wohl auf die Vorgänge bei Volkswagen machen würde. Natürlich geht es hier nicht um Guantanamo und Al Kaida. Aber die Entwicklungen bei VW gewinnen in diesen Tagen eine Dramatik, die nach einer literarischen Verarbeitung schreit. Der Dieselskandal, der ein Sinnbild deutscher Tüchtigkeit und Redlichkeit in den Geruch einer Trickserbude bringt. Die Milliardenstrafen und Schadenersatzzahlungen. Der radikale Schwenk zur Elektromobilität, den der Staat im Sinne der nötigen Infrastruktur bisher nur halbherzig begleitet. Die massiven Anlaufprobleme beim Kernprodukt VW Golf. Eine Corona-Krise, die die Absatzzahlen auf Tiefstände drückt, die wir alle vor sechs Monaten für völlig ausgeschlossen hielten. Und obendrauf kommt die Rassismus-Groteske.

Die Ursachen und Wirkungen sind komplex. Sie haben mit technischen Möglichkeiten und gesetzlichen Anforderungen zu tun, mit Marketing, mit geradem Rücken oder dessen Abwesenheit, mit der Transformation großer Organisationen. Der eine oder andere erliegt da dem Versuch der Vereinfachung. Einmal mehr wird dann alles auf den Widerstreit zwischen Vorstandschef Herbert Diess und dem Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh zurückgeführt.

Gekrönt wurde die Wiederaufnahme dieses beliebten Stückes so: Osterloh und IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hätten sich im Aufsichtsrat zum „Putsch“ gegen Diess verabredet. Die Meinungsverschiedenheiten beim Umbau des VW-Konzerns und die aktuellen Probleme bilden die Kulisse einer Inszenierung, die nichts anderes ist als eine Verballhornung des notwendigerweise Komplexen.

Wer da Regie geführt hat, bleibt unklar. Wollte eine Konfliktpartei der anderen einen Denkzettel verpassen, vielleicht sogar in bester Camouflagetechnik über Bande? Wie viel Journalisten-Phantasie steckte in der Putsch-Schlagzeile? Journalistische Profession und Schriftstellerei kommen sich bei einem Teil der Wirtschaftspresse deutlich zu nahe. Wir sprechen bei einem ideologisch aufgeladenen Journalismus ja noch nicht über eine künstlerische Interpretation der Realität, sondern über die wenig redliche Vorspiegelung der Tatsächlichkeit.

Dass dieselben VW-Gesellschafter, die Herbert Diess gerade erst das Vertrauen ausgesprochen hatten, ihn plötzlich fallen lassen, ist jedenfalls ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass die Arbeitnehmervertreter die arbeitsplatzgefährdende Krise dadurch verschärfen, dass sie einen Umsturzversuch starten. Diess’ Strategie ist nicht umstritten. Scharfe Kritik entzündet sich lediglich an ihrer Umsetzung. Die Eskalation hat keinen Sinn – man darf getrost mit der Intelligenz der handelnden Personen rechnen. Offensichtlich ist es Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch dann ja auch einmal mehr gelungen, die Arbeitsfähigkeit der Unternehmensführung sicherzustellen. Gut so.

Denn während man das Putschgerücht noch als „Augmented Reality“ von geringem Wert abtun mag, ist der Brandbrief der Vertrauenskörperleiter aller deutschen VW-Standorte ein Lagebericht mitten aus der Seele des VW-Konzerns. Die Vertrauensleute sind gewählte IG-Metall-Gewerkschafter aus allen Betriebsteilen, denen man besondere Nähe zur Belegschaft unterstellen darf. Was sie niedergeschrieben haben, ist zugleich ein Schmerzens- und ein Ordnungsruf. Sie haben die Nase voll von schlechten Nachrichten, die vermeidbar wären, vom Skandalvideo bis zur aktuellen Modellpolitik.

Man mag über die Schärfe der Formulierungen erschrecken. Man kann diesen Brief aber auch als Arbeitsplan lesen. Wenn die angesprochenen Probleme gelöst würden, wären alle einen großen Sack voll Sorgen los. Die Gesellschafter, die Manager, die Belegschaft, die Partner, die Kunden – und nicht zuletzt unsere Region. Deren Wohlergehen hängt, ob man das wahrhaben will oder nicht, von dem der Autoindustrie ab. Dass dann auch die Bereitschaft in Politik und Gesellschaft steigen würde, dieser Schlüsselindustrie unter die Arme zu greifen, ist mehr als nur eine Vermutung.

Die Weichen werden im wahren Leben gestellt. Ohne Ghostwriter.