Einer der in den KZ-Gedenkstätten in Auschwitz war, diskutiert nicht mehr, ob die heute Lebenden „schuld seien“. Darum geht es nicht.

„Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: „Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!“
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.“

Kurt Tucholsky,
„Rosen auf den Weg gestreut“

Die wichtigste Rede dieser Woche war keineswegs das Eigenlob des US-Präsidenten beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch die ungleich seriöseren Plädoyers der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen waren es nicht. Trumps Trompeten war in der üblichen Mischung aus Wahrheit, Drohung, Halbwahrheit und glatter Unwahrheit nur deshalb erträglich, weil er immerhin in einer Hinsicht Recht hat: Mit negativer Grundeinstellung erreicht man kein positives Ergebnis. Um mit Luther zu sprechen: Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz. Ansonsten bewies der Präsident nur, was Merkel und von der Leyen sagten: Ein starkes, handlungsfähiges, umweltfreundlich wirtschaftendes Europa ist die Voraussetzung für Stabilität und Wohlstand in einem Umfeld der Hasardeure.

Es gibt etwas, das noch wichtiger ist, noch tiefer geht, noch unmittelbarer darüber entscheidet, ob wir in einer Welt leben können, in der die Würde des Menschen etwas gilt. Einer Welt, in der niemand wegen seiner Religion, seiner Abstammung, seiner politischen Überzeugung, seiner sexuellen Orientierung oder seiner Behinderung verfolgt, verfemt, gejagt und ermordet wird. Einer zivilisierten Welt, in der jede Frau, jeder Mann, jedes Kind ein Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit führen kann.

Wichtiger als jede noch so wichtige aktuelle Weichenstellung ist die Grundlage, ist das Wertesystem, auf dem unser Gemeinwesen steht. Die wichtigste Rede dieser Woche ist deshalb die, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hielt, 75 Jahre nach der Befreiung der Menschen aus dem Vernichtungslager Auschwitz, als erstes Staatsoberhaupt Deutschlands.

In Yad Vashem bekommt der Zivilisationsbruch ein Gesicht. Hier sind, nüchtern, wissenschaftlich, aber in tiefem Respekt vor den Opfern, die Leiden der Menschen und die Brutalität des Nazi-Terrors dokumentiert. Hier lässt sich nicht begreifen, aber spüren und ahnen, was Deutsche und ihre Helfer im Namen Deutschlands und des Rassenwahns getan haben, wie sie unschuldige Männer, Frauen und Kinder beraubten, quälten und missbrauchten, ermordeten.

Nein, dieser Massenmord ist kein „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Deutsche brachten die Hölle auf unsere Erde, sie erfanden den industrialisierten Mord.

Wer die Folgen nicht von selbst erkennt, muss reisen. In der „Halle der Erinnerung“ in Yad Vashem, einem Raum, der Stille schafft, haben schon viele Deutsche gestanden, die sich dem Leiden unschuldiger Männer und Frauen und Kinder stellen. Einer, der in Yad Vashem, in den KZ-Gedenkstätten in Auschwitz oder Buchenwald war, der diskutiert nicht mehr, ob die heute Lebenden „schuld seien“ am Mord an Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten, Christen, Schwulen, Kranken und Behinderten. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir uns den Tatsachen stellen: Die meisten Deutschen haben ein Verbrecherregime bejubelt und getragen. Und es geht um die Frage, wie wir Heutigen unserer Verantwortung gerecht werden.

Die Gedenkstätten lehren uns: Wir haben die verdammte Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich Auschwitz niemals wiederholt. Wir müssen für die Würde des Menschen eintreten, nicht nur zwischen Flensburg und Garmisch. Kultursensibilität findet ihre Grenze, wo Menschen zu Opfern werden.

Frank-Walter Steinmeier hat die richtigen, großen Worte gefunden. Der Historiker Wolffsohn nannte sie wertlos, weil sie, inflationär verwendet, von niemandem mehr beachtet würden. Er verwies auf muslimische Einwanderer mit antisemitischen Einstellungen, die glaubten, sie ginge das alles nichts an. Er tut dem Bundespräsidenten Unrecht und seinem Anliegen keinen Gefallen. Denn er unterstellt ein Gegeneinander, das nicht existiert.

Natürlich dürfen wir nicht länger zulassen, dass eine neue antisemitische Sozialisation in unsere Gesellschaft einwandert. Gegen die neuen wie die alten Rassisten hilft nichts als klare Haltung, wie sie Steinmeier zeigt, und täglicher Einsatz. Die Gedenkstättenarbeit, die Volkswagen mit seinen Auszubildenden und dem Internationalen Auschwitz Komitee leistet, ist ein leuchtendes Beispiel.

Die furchtbaren Relativierer, die den Mord an den Juden Europas in einer perversen Arithmetik etwa gegen das Schicksal der Armenier im osmanischen Reich aufrechnen wollen, die Verbreiter menschenverachtender Vorurteile, die großen und kleinen Hetzer – sie dürfen niemals ohne Widerspruch davonkommen. Das schulden wir den Opfern. Das schulden wir uns selbst.

Christoph Heubner, Schriftsteller und Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, hat jetzt ein Buch veröffentlicht. In „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ verdichtet er die ungezählten Gespräche, die er mit Überlebenden des Holocaust geführt hat, zu drei Geschichten. Es ist ein schmales Bändchen und doch ein wichtiges, ein gewichtiges Buch. Sie sollten es lesen.

Christoph Heubner, Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen. Steidl-Verlag, 104 Seiten, 14,80 Euro