„Die überwältigende Mehrheit der Bürger weiß, dass nur eine Kultur der Toleranz und des Respekts die Zukunftschancen schafft, die wir alle suchen.“

Die Straße zur Hölle steckt voller guter Absichten.
Bruce Dickinson, „Road to Hell“

Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, besaß eine Gabe, um die wir sie heute noch beneiden würden: Sie konnte in die Zukunft sehen. Apollo hatte ihr diese Fähigkeit geschenkt, weil Kassandra so schön war. Aber als sie nichts von ihm wissen wollte, verfluchte er sie; niemand sollte ihren Weissagungen glauben. In dieser Geschichte steckt manche Lehre. Zum Beispiel: Nicht jedes Geschenk ist ein Segen. Und: Übermäßige Leidenschaft macht ungerecht.

Diese Woche haben sich erneut Landwirte aufgemacht, um in Berlin gegen die Agrarpolitik und gegen das zu demonstrieren, was sie als allgemeine Geringschätzung ihrer Arbeit empfinden. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Bauern haben allen Grund, sich zu beschweren.

Vater Staat lässt sie im Kampf mit der Marktmacht der immer stärker konzentrierten Lebensmittelindustrie und der Handelsriesen allein. Fördermittel gibt er durchaus nicht immer den arbeitenden Landwirten, sondern häufig den Landbesitzern (das ist längst nicht mehr dasselbe). Die Leistungen vieler Landwirte für die Pflege der Landschaft zahlen sich für sie nicht aus. Ideologisch überhitzte Tierwohl-Aktivisten blenden in ihrem Eifer aus, warum zum Beispiel Intensiv-Geflügelhaltung betrieben wird: Es gibt nach wie vor viele Käufer für billiges und nur einen begrenzten Markt für tiergerechter erzeugtes Fleisch. Den Landwirten wird auch zu oft die Alleinschuld am Insektensterben oder an der Verarmung der Landschaft zugeschoben. Ein Gang durch die „Steingarten“-Wüsten in Wohngebieten oder der Blick in den Einkaufskorb manches pestizidfreudigen Hobbygärtners ist lehrreich. Und: Der Klimawandel, den die Menschheit dem Planeten und sich selbst zumutet, trifft Bauern und Forstwirte härter als jeden anderen Berufsstand – ohne dass angemessen reagiert würde.

Die Bauern fragen zurecht, warum man alle Aufgaben auf ihren Höfen ablädt – besorgniserregend ist, wie sich ein Teil der Agrarpolitik von den Nöten der Bauern emanzipiert hat. Das galt nicht nur für den niedersächsischen Grünen-Minister Christian Meyer, der alle Halteseile mit der Axt traktierte. Es trifft auch auf die konservative Winzerstochter Julia Klöckner zu.

Aber wie bei Apollo, dem alten Griechen, ist der Grat zwischen gerechtem und ungerechtem Zorn schmal. Bauernprotest, der sich von der seriösen (und deshalb notwendigerweise mühseligen, unspektakulären) Verbandsarbeit entkoppelt, muss in militanten Posen stecken bleiben; das Gegenkonzept zur heutigen Agrarpolitik bleibt er schuldig. Ja, Trecker-Sternfahrten richten den Scheinwerfer auf die Lage der Landwirte. Veränderung im Sinne der Branche setzt man so aber nicht durch. Die Landwirte wären gut beraten, die Reihen zu schließen, anstatt ihre eigenen Repräsentanten als lahme Enten vorzuführen.

Wer in seinem Brast das Privathaus eines gutmeinenden Journalisten unserer Zeitung aufs Korn nimmt, dokumentiert nicht Handlungsstärke, sondern fehlendes Augenmaß. Die Autoren des NDR-Medienmagazins „Zapp“, die diese Woche so erstaunlich wohlwollend über den Bruch der Privatsphäre des Kollegen berichteten, gestanden abseits der Kamera, dass sie diese Bauern-Aktion selbst lieber nicht erleben möchten.

Und wer so tut, als habe nicht ein Teil der Landwirtschaft allen Grund zur selbstkritischen Reflektion, macht sich unglaubwürdig. Die dramatisch überhöhten Nitratwerte des Grundwassers im Nordwesten Niedersachsens haben dem Land eine Klage der Deutschen Umwelthilfe eingetragen; sie sind mitnichten vom Himmel gefallen.

Wir brauchen eine neue Agrarpolitik, so viel steht fest. Der faire Ausgleich zwischen dem Umweltschutz und den wirtschaftlichen Zwängen der Landwirtschaft wird der Schlüssel zur Lösung des Konfliktes sein. Ein Zauberwort lautet Differenzierung: Zwischen bäuerlichen Familienbetrieben und agrarindustriellen Großunternehmen sind die Interessengegensätze so groß wie die Fähigkeiten unterschiedlich, mit den schwierigen Klima- und Marktbedingungen umzugehen. Wenn der eine oder andere Politiker vom hohen Ross und der zornigste Teil der Bauern vom Trecker stiege, könnte die Arbeit an der bäuerlichen Zukunft Deutschlands beginnen. Und die ist den Schweiß der Edlen wert!

Unterdessen steht Braunschweig vor einem Wochenende mit massivem Konfliktpotenzial. Der AfD-Parteitag ruft den Widerstand eines breiten Bündnisses auf den Plan. Viele wollen vor dem Schloss ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus setzen.

Ein weiser Mann schrieb mir: „Warum gibt es eigentlich hauptsächlich ein Bündnis gegen rechts? Mir persönlich würde eine Teilnahme an einem Bündnis gegen (politischen) Extremismus leichter fallen.“ Mit diesem Gefühl ist er nicht allein.

Sei’s drum: Dank der klug vorsorgenden Arbeit der Polizei werden die Bürger die Chance haben, vor dem Schloss an einer großen, bunten, friedlichen Kundgebung teilzunehmen. Weil auch Scharfmacher anreisen, steht die Polizei vor einer schweren Aufgabe. Gut beraten ist, wer den Beamten Dankbarkeit zeigt und das Seine tut, Eskalation zu vermeiden: Die Polizei sichert das Recht der AfD, ihren Parteitag abzuhalten – und das Recht der Demonstranten, friedlich aufzustehen. So wie es im Rechtsstaat sein muss.

Der Gastkommentar von Prof. Klaus Meyer, in Kanada geschrieben aus Sorge um seine Heimatstadt, hat in unserer Mittwochausgabe der aktuellen Diskussion die historische Dimension hinzugefügt. Das war wichtig. Aus der deutschen Geschichte kann man nicht nur lernen, man muss es tun.

Die überwältigende Mehrheit der Bürger weiß, dass nur eine Kultur der Toleranz und des Respekts die Zukunftschancen schafft, die wir alle suchen. In diesem Sinne sollten wir uns ein Wochenende des friedlichen Austauschs der Argumente wünschen.

Viele von uns wären ruhiger, wenn sie, wie Kassandra, in die Zukunft blicken könnten. Aber falls sie nicht kürzlich Apollo begegnet sind, hilft heute nur Zivilcourage.