„Wenn der Chef des jüdischen Verbands Luther nur als Antisemiten begreifen kann, ist das ein kämpferischer Ton am falschen Platz.“

Nun zerredet ihn bloß nicht gleich wieder, den schönen neuen Feiertag, der das langjährige Ungleichgewicht in der Freizeitverteilung zwischen Nord- und Süddeutschland endlich etwas abmildern soll. Der Reformationstag ist dafür genau die richtige Wahl, denn er steht für das protestantische Selbstverständnis im klaren Norden, wo etwa in Niedersachsen knapp die Hälfte der Einwohner bekennend evangelisch sind und auch Kunst und Kultur bis in die bürgerlichen Stadtstrukturen hinein von der Reformation geprägt sind.

Die Reformation steht für Befreiung und Wandel, denn Martin Luther hat mit seinen Thesen die korrumpierte Autorität der damaligen Kirche hinterfragt und zum Selbstdenken, Selbstlesen, Selbstzweifeln aufgefordert. Darauf haben Aufklärer wie Leibniz und Lessing aufgebaut. Zwischen Gott und dem Ich gab es keine vermittelnden Instanzen mehr, Glaube wurde Gewissensentscheidung. Davon profitieren auch alle Anders- oder Nichtgläubigen bis heute. Insofern ist der Reformationstag geradezu ein weltlicher, ein Verfassungsfeiertag.

Luther selbst empfand seine Einsamkeit vor Gott zunächst als bedrückend, bis er in der Bibel las, dass Gottes Liebe nicht errungen werden muss, sondern als ewiges Angebot bereits besteht. Davon hat Luther gern gesungen. Und geschimpft gegen alle, die sich vermaßen, durch eigene Verdienste gotteswürdig werden zu können. Das hat er Katholiken wie Juden, oft auch derb, vorgeworfen. Im Sinne der von der Reformation initiierten Gewissensfreiheit würden heute alle Protestanten sagen: Möge jeder nach seiner Fasson selig werden, solange er andere damit nicht stört.

Nachdem man nun ein Jahr lang in diesem Sinne Reformation gefeiert hat, sind die Anwürfe von katholischer wie jüdischer Seite zumindest unfreundlich. Haben Protestanten in Süddeutschland jemals gegen katholische Feiertage protestiert? Papst Franziskus jedenfalls hat Luthers Klarheit in der Gnadenlehre hochgelobt. Wenn der Chef des jüdischen Landesverbands Niedersachsen Luther nur als Antisemiten wahrnehmen kann und dafür sorgen will, dass der Reformationstag „nicht so ein schöner Tag wird, wie sich die Regierung das vorstellt“, ist das ein kämpferischer Ton am falschen Platz. Er hat in den evangelischen Christen heute die treuesten Mitstreiter gegen Antisemitismus. Hier läge die Chance des Reformationstags als auch religiös nutzbaren Buß- und Bettags, an dem man sein Verhältnis zu Gott und Welt neu überdenkt.