„Kein Abgeordneter hat das Recht, sich über den Wählerwillen zu erheben.“

Totalitäre Systeme machen es sich einfach. Sie bezeichnen sich häufig als „Volksrepublik“, behaupten die Einheit des Volkes und leiten daraus ihre Legitimation ab, unbeschränkt über alle Menschen zu herrschen. Denn weil es diesem grundlegenden ideologischen Konstrukt gemäß innerhalb des Volkes keine divergierenden Interessen geben kann, existieren in diesen Systemen weder inhaltlich sich unterscheidende Parteien noch Interessenvertreter wie Gewerkschaften oder Unternehmerverbände. Die „Herrschaft des Volkes“ findet nicht statt – hinter dieser Worthülse verbirgt sich die Diktatur einer Partei oder Gruppe.

Demokratie ist viel komplizierter. Der einzelne Mensch steht als Herr seiner Entscheidungen im Mittelpunkt eines Systems, in dem sich Interessen und Überzeugungen geeignete Vertretung suchen. Jede Wählerstimme hat dasselbe Gewicht. Wer die Wahlfreiheit einschränken will, stößt gerade in Deutschland auf schwer überwindliche Hindernisse: Die Väter des Grundgesetzes und die Verfassungswächter in Karlsruhe haben dem Ausschluss politischer Parteien hohe Hürden gesetzt. Diese Demokratie organisiert ihre Arbeit in Parlamenten, welche die Ausübung von Macht streng limitiert an die Exekutive ausleihen. Die Regeln sind kompliziert – nur wenige Wähler kennen das Innenleben des Parlamentarismus im Detail.

Von den Parlamentsmitgliedern ist zu erwarten, dass sie seine Regeln und Bräuche respektieren. Gestern haben sie es nicht getan. Bei der Wahl der Mitglieder des Ausschusses, der die Arbeit der Geheimdienste kontrolliert, ließ die Mehrheit den AfD-Abgeordneten Roman Reusch durchfallen. Als Oberstaatsanwalt war er durch stramme Law-And-Order-Positionen aufgefallen. Nichts aber deutet darauf hin, dass er als Ausschussmitglied die Vertraulichkeit der Beratungen verletzt hätte.

Reuschs Abstimmungsniederlage war Ausdruck einer Anmaßung. Die Parlamentsmehrheit verhielt sich, als gebe es Mandate höherer oder niedrigerer Ordnung. Das verletzt einen Kernwert der Demokratie: Kein Abgeordneter hat das Recht, sich über den Wählerwillen zu erheben. Wer der AfD entgegentreten will, soll und muss die inhaltliche Auseinandersetzung suchen.