Braunschweig. Inflation und Corona beeinflussten weiter das Reiseverhalten, sagt Tourismus-Forscher Thiesing. Auf deutsche Hotels kämen ungemütlichere Zeiten zu.

Was hat Corona mit der Reiselust der Deutschen gemacht? Sind wir die gleichen, die wir vor der Pandemie waren, wenn es um unseren Urlaub geht? Und bleiben wir es auch? Oder fehlt uns für unsere Auszeit vom Alltag bald das nötige Kleingeld?

Mit dem Tourismus-Forscher der Ostfalia-Hochschule am Standort Salzgitter, Professor Ernst-Otto Thiesing, sprachen wir über diese und weitere Themen.

Vor zwei Jahren begann die Pandemie. Die Menschen wurden in ihrem Streben nach Entspannung ausgebremst. Heute, zwei Jahre später, leben wir weiter im Wissen von Infektionswellen. Hat Corona die grundsätzliche Einstellung der Deutschen zum Reisen und die Ziele verändert?

Prof. Ernst-Otto Thiesing lehrt an der Ostfalia Hochschule Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Business-Travel-Management.
Prof. Ernst-Otto Thiesing lehrt an der Ostfalia Hochschule Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Business-Travel-Management. © Ostfalia Hochschule | Ostfalia Hochschule

Wir vergleichen hier zwei Situationen, die schwer miteinander zu vergleichen sind. Es gab 2020 Einschränkungen, die der Staat seinen Bürgern, aber auch die Bürger sich selbst auferlegt haben. Auslandsreisen konnten nicht angetreten werden, obwohl sie vermutlich grundsätzlich gerne gemacht worden wären. Hier ist es dann in der Folge zur Verlagerung von Aktivitäten gekommen. Die Menschen haben eher in Deutschland Urlaub gemacht als im Ausland.

Jetzt sind die Schlangen an den Flughafenschaltern wieder lang und die Betreiber dort teilweise überfordert, weil ihnen Personal abhanden gekommen ist. Haben Sie diese Entwicklung im Gegensatz zu anderen wie die Lufthansa erwartet?

Eine von mir durchgeführte Umfrage unter Touristikern zu Beginn der Corona Pandemie 2020 hat die Entwicklung insofern ahnen lassen, dass der Deutschland-Tourismus in der Pandemie zulasten der Auslandsreisen stark zulegt. Zwar hat sich der innerdeutsche Tourismus zunächst schneller von den Pandemieeinschränkungen erholt als der, der sein Geld mit Reisezielen auf der Mittelstrecke innerhalb von Europa verdient. Jedoch nimmt jetzt die Zahl der Auslandreisen offensichtlich wieder zu. Der Urlaub in Deutschland ist zwar weiterhin sehr beliebt, aber nicht mehr auf dem hohen Niveau der letzten beiden Jahre. Dieser Trend des Jahres 2021 setzt sich meines Erachtens im Jahr 2022 fort, ist sogar noch verstärkt zu beobachten.

Sind die Ziele die gleichen wie vor der Pandemie?

Ja. Die Klassiker wie Spanien, Türkei, Italien, Kroatien sind weiter angesagt. Das sind die Hauptziele im europäischen Ausland. Ich würde daher von einer „Normalisierung des Reiseverhaltens“ sprechen. Es offenbart sich ein Verhalten, das vergleichbar mit dem der Vor-Corona-Zeit ist. Was wir allerdings auch sehen, ist immer noch eine Zurückhaltung bei den Fernreisen. Aber hier fehlen noch valide Zahlen.

Springen wir zurück in den Tourismus der Vor-Corona-Zeit: Da gab es mit dem Aufkommen auch der „Fridays- for-Future“-Bewegung eine Debatte über klimagerechten Tourismus. Da fielen Begriffe wie „Flugscham“, da musste man sich wegen einer Kreuzfahrt rechtfertigen. Ist das alles vergessen?

Meine persönliche Einschätzung: Diese Debatte ist jetzt gerade in den Hintergrund getreten, und die Menschen wollen diese Auseinandersetzung derzeit auch nicht führen. Die Zahlen zeigen eine deutliche Zunahme an Flugreisen zuungunsten des innerdeutschen Tourismus. Bei den Kreuzfahrten ist dieser Trend nicht ganz so deutlich zu sehen. Hier spielt Corona wohl noch immer eine Rolle. Der Faktor Angst, also erkrankt auf einem Schiff festzusitzen, ist mit Blick auf das Buchungsverhalten sicher nicht von der Hand zu weisen.

Lassen sich für Deutschland Reisetypen in Kategorien einsortieren?

Ja. Hierbei ist die Motivation, warum man Reisen unternimmt, entscheidend. Wer sich erholen will, sucht häufig Strand und Sonne. Da steht auch der eskapistische Ansatz von Urlaub im Vordergrund. Der ist sicherlich in Deutschland sehr ausgeprägt. Es gibt hierzulande viele Menschen, die sagen, sie fahren irgendwo hin, um weg zu sein, weil sie mal rauswollen, etwas anderes sehen wollen. Dieser Gedanke von Urlaub prägt viele.

Gilt das dann auch für den Urlaub innerhalb von Deutschland?

Die Motivlage ist hier schon in Studien ermittelt. Wer in Deutschland Urlaub macht, den zieht es insbesondere in die Natur, ob zum Wandern oder an die See. Dann gibt es die, die Sehenswürdigkeiten besuchen und im Urlaub urbanes Flair genießen wollen mit all der kulinarischen Vielfalt, die gerade in den Städten geboten wird.

Fahren die Deutschen heute länger in den Urlaub oder kürzer? Gibt es da Forschungsansätze?

Der Zahl der Kurzurlaube hat in den letzten Jahren – vor Corona – zugenommen. Wir sprechen hier von kürzeren Auszeiten, die sich auf zwei bis fünf Tage beziehen. Davon profitierten insbesondere Städte. Da ist die Motivation der Reisenden aber auch eine andere. Da spielt Erholung eine untergeordnete Rolle. Diese Kurz-Trips ersetzen aber nicht den Jahresurlaub, sondern ergänzen ihn nur.

Lassen Sie uns etwas spekulieren: Wenn man sich heute den Wetterbericht anschaut, die Hitze-Entwicklung europaweit sieht, muss mancher doch das Gefühl haben, Urlaubmachen wird in den klassischen Mittelmeerdestinationen mehr und mehr zur Qual. Stellen sich dann nicht mit Blick auf den regionalen Tourismus zwei Fragen: Stellt der Deutschland- Tourismus eine Alternative zu Auslandsreisen dar? Und wenn ja, wäre er einem solchen Ansturm überhaupt gewachsen?

Erklärung Grafik 1 (links): Die Top-Ten-Urlaubsmotive sind seit Jahren stabil, jedoch nehme seit 2020 die überdurchschnittliche Zustimmung der eher „ichbezogenen, entschleunigenden Aspekte“ und nicht so sehr der große Hunger nach Action oder Neuem zu. Erklärung zu Grafik 2 (rechts): Die Grafik zeigt die Anzahl der gebuchten In- und Auslandsreisen zwischen 2019 und 2021 in Deutschland. Das Tortendiagramm zeigt lediglich das prozentuale Verhältnis für das 2021. Für 2022 werden Zahlen noch erhoben.
Erklärung Grafik 1 (links): Die Top-Ten-Urlaubsmotive sind seit Jahren stabil, jedoch nehme seit 2020 die überdurchschnittliche Zustimmung der eher „ichbezogenen, entschleunigenden Aspekte“ und nicht so sehr der große Hunger nach Action oder Neuem zu. Erklärung zu Grafik 2 (rechts): Die Grafik zeigt die Anzahl der gebuchten In- und Auslandsreisen zwischen 2019 und 2021 in Deutschland. Das Tortendiagramm zeigt lediglich das prozentuale Verhältnis für das 2021. Für 2022 werden Zahlen noch erhoben. © Reiseanalyse | Reiseanalyse

Das ist nicht einfach zu beantworten. Offensichtlich ist es ja für viele aktuell kein Problem, die Ziele, die man immer angesteuert hat, weiterhin anzusteuern. Für manche, ich zähle mich dazu, ist es auch eine kleine „Qual“ nachts aufzustehen, wenn man frühmorgens den Flieger nehmen muss. Das empfinden Menschen aber durchaus unterschiedlich. Wenn man jetzt sieht, dass der Boom, in Deutschland seinen Urlaub zu verbringen, seinen Höhepunkt schon überschritten hat, könnte man auf den Gedanken kommen, dass das Angebot nicht vollständig die Erwartungen erfüllt. Wenn man es mal platt sagen will: Auf Rügen ist das Wasser 18, auf Mallorca 25 Grad warm. Wenn sich dann hier auch noch die Preise erhöhen und eine Auslandsreise günstiger erscheint, kann die Garantie auf Badespaß zum Beispiel ein wichtiger Faktor werden.

Womit könnte die deutsche Küste denn dann punkten?

Natürlich sind die Strände schön, und wenn das Wetter mitspielt, sind das tolle Orte der Erholung. Wir müssen aber auch sehen, dass sich aktuell die Inflation und die damit verbundene Preissteigerung Bahn bricht. Es ist auch in Deutschland sehr teuer geworden, Urlaub zu machen. Wenn beispielsweise die „Ostsee-Zeitung“ eine Zwischenbilanz des Sommers in Mecklenburg-Vorpommern zieht und von einer bisher „ernüchternden Sommerbilanz für den Tourismus“ spricht, weil Restaurants und Hotels mit deutlichen Einbußen gegenüber dem Vorjahr rechnen müssten, dann beschreibt das schon eine deutlich angespannte Lage. Allein in Hotels an diesem Teil der deutschen Ostsee sollen 5 bis 15 Prozent weniger Gäste registriert worden sein.

Wie ist Ihre Erklärung?

Eine ist, dass mit der Pandemie und der Angst vor Ansteckungen auch das Hotelgewerbe nicht mehr die sensationellen Zahlen vorweisen kann, das es mal hatte. Die Zahlen sind aber weiter gut. Die Menschen fühlen sich dort sicherer, wo sie im Zweifel auch unter sich bleiben können, also boomt das Geschäft mit Ferienwohnungen, aber auch mit Campern, enorm. Auch der Trend der kulinarischen Selbstversorgung ist einer, den wir derzeit beobachten.

Dieser Trend wird sich vermutlich in den nächsten Jahren mit Blick auf die anstehenden Gas- und Strompreise und dementsprechend hohen Kosten für Miete oder abzuzahlendes Eigentum weiter auf die touristischen Aktivitäten auswirken. Was denken Sie?

Ich denke, dass der Bereich Tourismus beziehungsweise alles, was mit Wohlfühlfaktoren im Urlaub zu tun hat – Stichwort Restaurantbesuche – stärker unter Druck geraten wird. Die steigenden Lebenshaltungskosten im Allgemeinen und die der Energiekosten im Besonderen, flankiert von der Vorsicht, die durch Corona weiterhin angeraten erscheint, sind Faktoren, die dafür sprechen, dass sich die Branche hierzulande auf etwas ungemütlichere Zeiten einstellen muss.

Wird der heimische Garten, der Park, das Freibad um die Ecke irgendwann den Urlaub ersetzen?

Theoretisch ist das denkbar, die Zahlen der Reiseintensität der Deutschen zeigen allerdings etwas anderes. Über Jahre machten über 75 Prozent aller Deutschen über 14 Jahren mindestens einen Urlaub von fünf oder mehr Tagen im Jahr. Das war ein hoher Wert und der war lange Jahre stabil. Während der Corona Pandemie ist die Reiseintensität allerdings deutlich zurückgegangen, jetzt steigt sie aber wieder. Auch hier sieht man, dass der Garten oder der Balkon dauerhaft nicht als Alternative in Betracht kommen. Es ist denkbar, dass die Menschen künftig eher auf kurze Reisen verzichten – auch aus finanziellen Gründen. Der Jahres- oder Haupturlaub bleibt davon unberührt. Da wird eher geschaut, ob das Reiseziel den finanziellen Möglichkeiten angepasst werden muss. Dann wird eher auf Aktivitäten verzichtet oder das Verhalten vor Ort geändert. Meine Prognose ist: Es wird eher im als am Urlaub gespart werden.