Braunschweig. Das Projekt „Stadionallianzen“ soll nach der Corona-Pause wiederbelebt werden. Warum der Dialog zwischen den Akteuren vor Ort so wichtig ist.

Die Idee an sich war gut, der Zeitpunkt denkbar schlecht: Als Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) im Januar 2020 – in Anwesenheit von Vertretern sechs niedersächsischer Profi-Klubs – das Projekt „Stadionallianzen“ vorstellte, ahnte niemand, dass sich das Thema wenige Monate später erstmal erledigt hatte. Als Corona kam, mussten die Fans gehen. Und angesichts leerer Stadien stellte sich die Frage nach einem Plus an Stadionsicherheit auf einmal nicht mehr so drängend. Dem Projekt war der Stecker gezogen worden.

Dabei hatte man in Baden-Württemberg seit 2017 gute Erfahrungen gesammelt. Dort sorgte der systematisierte Austausch der Akteure, die ein Fußballspiel zu organisieren hatten, ganz nebenbei auch für die Reduzierung von Einsatzkosten. Etwas, das sich auch Dienstherr Pistorius für die Polizeien in Niedersachsen wünschte. Doch die Pandemie veränderte zunächst Prioritäten.

Jetzt, wo die Stadien wieder voll ausgelastet sind, wo die Kurve singt und wie selbstverständlich der „Pyro“-Rauch nicht nur Blicke, sondern dem ein oder anderen augenscheinlich auch die Sinne vernebelt, wo Derbys gespielt und erwartbar wieder mehr Strafanzeigen nach Spieltagen geschrieben werden müssen, stellt sich die Frage: „Stadionallianzen“ in Niedersachsen – war da was? Einst ausgebremst, und nun? Wird das Vorhaben in dieser Saison wieder Schwung holen?

Ziele des Landes Niedersachsen: die Sicherheit in den Fußball-Stadien erhöhen

Auch zweineinhalb Jahre nach der Einführung des Projekts, hält das Land an dessen Zielsetzung fest. So sollen im steten Dialog zwischen den Akteuren vor Ort Aufwände für Polizei und Veranstalter maßvoll gesenkt und Sicherheit für Zuschauer erhöht werden, teilte eine Ministeriumssprecherin unserer Zeitung mit. Trotz Corona sei dieser Austausch zwischen Fan-Vertretern, Vereinen, DFL und Polizeibehörden fortgesetzt worden.

In einer E-Mail an unsere Zeitung heißt es wörtlich: „Die Pandemie hat die Umsetzung bedauerlicherweise ein wenig gebremst. Dennoch haben sich die Strukturen und Ziele der Stadionallianzen an niedersächsischen Fußballstandorten bereits verstetigt. Das Projekt hat insofern nicht geruht, vielmehr haben alle beteiligten Netzwerkpartner die Covid-19-Pandemie genutzt, um die bereits existierenden Strukturen anhand des Konzeptes der Stadionallianzen zu optimieren.“

Polizeieinsatzkosten
Polizeieinsatzkosten © Jürgen Runo

Ist dem wirklich so? Die Polizeidirektion Braunschweig bestätigt zumindest zwei „virtuelle Treffen“ zum allgemeinen bzw. Austausch über Schwerpunktthemen. Auch die FH Potsdam, die eine wissenschaftliche Studie hierzu anfertigt, sei eingebunden gewesen. Laut einem Polizeisprecher sei der Begriff „Stadionallianzen“ aber noch nicht klar definiert, werde aber „lokal schon gelebt“.

Bei der Vorstellung des Projekts hatte Innenminister Pistorius herausgestellt: „Kernpunkt des Konzepts ist, alle beteiligten Parteien wie Vereine, Fanclubs, Verbände, Polizei und Vertreter der Kommunen an einen Tisch zu bringen und gemeinsame Absprachen vor den Spielen zu treffen.“

Auch auf den Erfolgs-Piloten aus Baden-Württemberg und die mehr als 30.000 eingesparten Polizei-Einsatzstunden in einer Saison dort, verwies Pistorius in dem Zusammenhang. Deswegen sei es allemal wert, das Projekt in „angepasster Form auch in Niedersachsen zu starten“, sagte der Minister 2020.

Baden-Württemberg ist Vorbild bei den „Stadionallianzen“

Uwe Stahlmann aus dem Landespolizeipräsidium Stuttgart gilt als „Erfinder“ der neuen Dialogform für mehr Stadionsicherheit und somit auch irgendwie als „Vater des Erfolgs“. Auch wenn der Ministeriumsmitarbeiter in solchen Kategorien nicht zu denken scheint.

Die „Allianz“ ersetze dabei keinesfalls „anlassbezogene Sicherheitsgespräche“ zwischen Vereinen und den Einsatzleitern der Polizei vor den jeweiligen Spieltagen, so Stahlmann. Doch der Schwur auf ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen über das konkrete Ereignis hinaus könne helfen, langfristig für mehr Sicherheit rund um das Stadion zu sorgen, ist Stahlmann überzeugt. „Letztlich sind wir auf das gegenseitige Vertrauen der handelnden Sicherheitsakteure angewiesen, ansonsten muss das Misstrauen, das die Akteure verspüren, selbst ausgeglichen werden und das heißt in der Konsequenz für die Polizei, mehr Beamtinnen und Beamte einzusetzen“, schildert er im Gespräch mit unserer Zeitung seine Position. „Uns ist dabei auch bewusst, dass in manchen eskalierenden Situationen auch die Polizei ein Teil des Konfliktes ist. Etwas anderes zu glauben, wäre naiv. Diesem Umstand muss auch die einsatzführende Polizeidienststelle, die die Einsätze plant, Rechnung tragen.“

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Stadion-Irrsinn

Papier sei geduldig, viel zu lange sei das so gewesen, skizziert Stahlmann eine für die Polizei abträgliche Entwicklung. „Wir beobachten seit Jahren einen gleichbleibenden Korridor bei der Anzahl von Straftaten und Verletzten im Umfeld von Fußballspielen, bei einer sich gleichzeitig immer weiter verbessernden Infrastruktur, für die auch die Vereine und die Kommune sorgen. Dagegen steigt die Zahl der eingesetzten Beamten und Beamtinnen immer weiter an.“ Diese Entwicklung wollte und wolle man weiter stoppen. Anstatt sich immer wieder auf Sicherheitsgipfeln selbst zu bestätigen, dass man eng zusammenarbeiten wolle, rückten mit den „Stadionallianzen“ die Praxis und die Praktiker in den Fokus. „Die Entscheidungen werden dort getroffen, wo die höchste Kompetenz vorhanden ist – nämlich in den lokalen Stadionallianzen – und nicht die höchste Hierarchie.“

Hochrisikospiele müssten weiter mit viel Polizei begleitet werden

Dass Stahlmanns Idealvorstellung manchmal in der Praxis am Unwillen der örtlichen Einsatzleiter zur Kooperation mit anderen Akteuren scheitert, wird hinter vorgehaltener Hand nicht nur von Fan-Vertretern geschildert. Der Verdacht ist auch anderen in der Sache vertrauten Personen schon gekommen, ergab die Recherche.

Hochrisikospiele müssten weiter mit viel Polizei begleitet werden, sagt auch Stahlmann. Dabei müsse einem bewusst sein: Nur ein Spiel, das aus dem Ruder laufe, verhagele einem die Statistik einer ganzen Saison. Doch erst der Dialog im Vorfeld und die gemeinsame Aufarbeitung im Nachgang führten auf Sicht zu strukturellen Verbesserungen. „Dann wird klar, an welchen Einsatzorten manchmal auch gegebenenfalls zu viele Polizisten eingesetzt wurden.“

Stahlmanns Initiative zahlt sich aus. Die Polizeikosten durch weniger geleistete Einsatzstunden seien laut Rechnungshof schon vor Corona um zwei Millionen Euro gesunken. Ein Zeichen laut Stahlmann an den Steuerzahler, dass sich auf der Ausgabenseite etwas tue.

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Die Akteure in Niedersachsen bräuchten mehr Mut und eine neue Fehlerkultur

Matthias Mendel ist das Pendant von Stahlmann im niedersächsischen Innenministerium und seit Jahren für die Koordination der Sporteinsätze der Polizei zuständig. Genau wie Stahlmann wünscht er sich den Mut aller Akteure, neue Wege zu gehen. Und den Mut, für begangene Fehler gemeinsam die Verantwortung zu tragen. Man bräuchte hier eine neue Fehlerkultur. Nicht nur die Polizeikräfte leisteten Woche für Woche Enormes, auch Vereine müssten einen immer höheren logistischen Aufwand für die Durchführung der Spiele betreiben. „Hier müssen wir Belastungen für alle runterfahren“, sagt Mendel.

Neben Eintracht Braunschweig und dem VfL Wolfsburg haben noch Hannover 96, der VfL Osnabrück, der VfB Oldenburg und der SV Meppen ihren Willen beim Innenministerium hinterlegt, die „Stadionallianzen“ zu einem Erfolg führen zu wollen. Warum diese Vereine? Mendel erklärt ihre Teilnahme mit dem bestehenden Fanpotenzial und mit ihren sportlichen Ambitionen. Diese Vereine spielten dauerhaft in den oberen Fußballligen und müssten auch bei DFB und DFL Sicherheitskonzepte hinterlegen und beispielsweise Fan-Betreuer stellen.

Nachgefragt bei Eintracht Braunschweig, teilt Fan-Beauftragter Erik Lieberknecht mit: Man begrüße alle Maßnahmen, die die Kommunikation aller Partner optimieren, die Sicherheit erhöhen, die Kosten für die öffentliche Hand senken und die Konfliktpotenziale reduzieren würden. „Stadionallianzen“ seien in Braunschweig bewährte Realität, so Lieberknecht. Der nun wieder beginnende standortübergreifende Dialog habe allerdings einen Mehrwert. Er könne vergleichbare Standards schaffen und Unterschiede zwischen Standorten abschaffen.

Das Fan-Projekt der Awo am Standort Braunschweig stimmt den Aussagen des Vereins grundsätzlich zu, stellt aber klar, dass noch mehr möglich sei. „Die Weiterentwicklung des Projekts in Niedersachsen könnte ein wichtiger Motor sein, um bestehende Strukturen in jeglicher Form zu überdenken. Sie können zum gegenseitigen Rollenverständnis der verschiedenen Akteure beitragen und letztlich die Zusammenarbeit intensivieren und verbessern.“ Das Lernen von anderen Standorten sei auch entscheidend, um sich selber zu hinterfragen, ob man alles richtig mache, erklärt Karsten König, Leiter des Fan-Projekts.

Vorbild für alle – der VfL? Aber Vorwürfe gegen Wolfsburger Polizei

Beim VfL Wolfsburg wollen sie Mitte August an der nächsten landesweiten Tagung zu den niedersächsischen Stadionallianzen teilnehmen. So wie alle Akteure, die unsere Zeitung im Zusammenhang mit dieser Berichterstattung sprach. Man unterstütze die Initiative und sei weiter ein Teil von ihr, erklärt VfL-Geschäftsführer Michael Meeske. Er betont aber auch: Am Standort Wolfsburg lebe man den konsequenten Dialog zum Thema Stadionsicherheit seit Jahren. „Den Rahmen bildet eine 2013 geschlossene Kooperationsvereinbarung zwischen der Stadt Wolfsburg, der Polizeiinspektion Wolfsburg-Helmstedt und dem VfL Wolfsburg zum gemeinsamen Umgang mit Fangruppierungen in der Stadt Wolfsburg“, so Meeske. Auch in Braunschweig ist dieser Umstand bekannt. Hier habe der VfL niedersachsenweit ein Alleinstellungsmerkmal, sagt Karsten König. Das müsse man anerkennen.

Dass auch an vermeintlich „vorbildlichen“ Standorten an jedem Spieltag neue Herausforderungen gemeistert werden müssen, hat dieses Fußball-Wochenende erneut eindrucksvoll belegt. So muss sich in Wolfsburg die dortige Einsatzführung der Polizei schweren Vorwürfen vonseiten der Ultra-Szene aus Bremen stellen. Die Gästefans seien nach Ankunft am Bahnhof eingekesselt und unangemessen Kontrollen unterzogen worden, beschwerte sich der Verein Werder Bremen über das Vorgehen. Aus Protest reisten die Ultras wieder ab. Ob fehlende Dialogbereitschaft im Vorfeld die Situation eskalieren ließ, wird die Aufarbeitung des Vorfalls zeigen. Womöglich wird dieser auch ein Nachspiel vor Gericht haben.