Braunschweig.

Die Frau macht es sich nicht leicht. Es wäre untertrieben zu behaupten, sie spare das Schmerzhafte nicht aus. Sie geht direkt darauf los. Ihre Brudergeschichte beginnt 2017 auf der Palliativstation. „Seine rechte Hand. Viel mehr ist es nicht, was mein Bruder noch bewegen kann.“

Es geht um Robby, den über alles geliebten, sieben Jahre jüngeren Bruder. Den Schicksalskameraden, mit dem noch so viel zu bereden wäre. Über die besondere, zum Teil besonders schlimme Familiengeschichte müsste man reden. Über Gewalt. Über die Traumata. Über den Opa und die Nazi-Diktatur. Über den Vater und die Stasi. Überhaupt über das Leben in der DDR. Übers Weggehen und Dableiben. Über all die Lügen nach der Wiedervereinigung. Über den Rechtsruck im Osten. Über die verleugneten Spätfolgen der sehr verschiedenen, dabei eben doch: beiden deutschen Diktaturen. Robby ist anders als die Schwester, er ist nicht so überzeugt von der Idee des „Großreinemachens“. Und nun wird er, gerade einmal 50 Jahre alt, vom Hirntumor gemartert. Wenig später stirbt er. Die Schwester fühlt sich, als ob ihr jemand einen Eispickel ins Gehirn gerammt habe. Sie hat nur eine Chance, so sieht sie das: Hinab in die „Krypta der Familie“. Und dann schreibend wieder hinauf. Schreiben, alles aufschreiben. Raus damit!

Das Buch „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“ ist ein persönlicher Befreiungsschlag. Doch die kunstvoll verdichteten familiären Skizzen werden verschränkt mit allerhand psychopolitischen Thesen und historischen Einschüben. So soll das eigene Beispiel schon auch immer fürs große Ganze stehen. So entsteht ein Buch, das sich als semiliterarische Montage des Unbewältigten bezeichnen ließe. Hinaus läuft der Text auf den Appell, endlich anders, endlich offen über die schlummernden Dämonen der deutschen Familiengeschichten zu sprechen.

Das klingt pauschal. In gewisser Weise ist es das auch. Doch die Hauptsache ist: Entstanden ist es ein dringlicher, konzentrierter, anregender Text einer streitbaren Frau und leidenschaftlichen Könnerin.

Beim Leserforum mit der gebürtigen Dresdnerin am Mittwochabend im BZV-Medienhaus stand die 2019 erschienene „Umkämpfte Zone“ im Mittelpunkt. Der Anlass war die im Vorjahr erfolgte Verleihung des Wolfenbütteler Lessing-Preises für Kritik an die Autorin. Rainer Moritz (Literaturhaus Hamburg) und Henning Noske (Lokalchef unserer Zeitung) moderierten souverän-jovial und mit viel Respekt vor der so gar nicht dozierenden, eher mit ihren Themen ringenden Autorin. Ein aufmerksames Publikum folgte der Lesung wie der Diskussion leibhaf-tig, was ja im Herbst 2021 beinahe etwas Sensationelles an sich hat. Live-Reaktionen! Vor Ort! Nehmen wir den Moment, als Ines Geipel, apropos DDR-Mythen und DDR-Märchen, sich das Klischee der „emanzipierten, berufstätigen Ost-Frau“ vornahm und dann die Frage aufwarf, warum sich denn eigentlich so vieler dieser Frauen gleich nach der Wende von ihren „autoritären Knackern“ getrennt hätten. Da stöhnte eine Besucherin schräg gegenüber plötzlich „Jaaaaa“...

Der wahre Hintergrund der AfD

Ines Geipel hat viel aufklärerische Verve. Sie problematisiert den „Buchenwald-Mythos“ und den fingierten Antifaschismus der DDR. Das aufgesetzt Hoffnungsfrohe der unzähligen Aufmärsche und Bekenntnisse. Die Herrschaft von Lüge und Gewalt. Die Ostalgie. Wie verhält sich die stasimäßig eilig unterdrückte Erkenntnis, dass 15 Prozent der DDR-Bürger rechtsextrem eingestellt waren, zu den Skinhead-Problemen der 80er, wie zu den Wahlsiegen der AfD in Sachsen, Brandenburg und Thüringen? Warum sind die „Stahlseile des Verleugnungskarussells“ immer noch intakt? „Man hat halt nicht gern verloren“, heißt es dazu schön prägnant.

Doch packender sind die persönlichen Themen. Welche Rolle hat der SS-Opa gespielt bei der schauerlichen Ermordung Zehntausender Juden in Riga? Genau hat auch die fanatische Archiv-Wühlerin Geipel es nicht herausbekommen. Bis zur Schnitzelgröße exakt konnte sie hingegen (erst nach 2004!) die Arbeit des Vaters als „Terror-Agent“ recherchieren, der für die Stasi heikle Aufträge im Westen erledigte. Es sind die härtesten Stellen der „Umkämpften Zone“, wenn die Eltern beschrieben werden: „Vater schätzte gutes Essen, Schönes und Leistung, er brauchte die Musik, er mochte Orgien und Exzesse, aber vor allem war er darauf aus, andere Menschen zu vernichten.“ Die Kinder bekamen es zu spüren. Nein, es geht hier nicht um so genannte Backpfeifen. „Wir mussten durch die Realität eines enthemmten Mannes. Vater, der verdeckte Krieger. Es war das Stasi-Prinzip jener Jahre.“ Gerade in der skrupulösen Kargheit der Darstellung ist die Berührung der kleinen Hand des kleinen Bruders („Ich wollte etwas tun, aber ich konnte nicht. Ich war vor ihm dran“), das Füreinander-da-Sein der malträtierten Geschwister sehr berührend. Und die Mutter? „Ihr Schweigen hatte etwas Atemloses. Verschweigen, wegschweigen, an-schweigen, zuschweigen, drüberschweigen, ausschweigen, umschweigen. Es war bestimmt ihr notwendiges System, am Ende ihre Herrschaft, ihr Triumph.“

Nein, es ist wirklich nicht schön in der „Krypta“ dieser Familie. Fing sie deshalb so fanatisch an zu laufen? Wurde sie deshalb zur berühmten Sprinterin? Auch deshalb also später zur Streiterin für den offenen Umgang mit Doping in der DDR? In dieser Rolle hat Ines Geipel begonnen, Wunden zu benennen und öffentlich das Beschweigen zu bekämpfen. Auch diese Wunden sind übrigens längst nicht verheilt. Helmut Berthold von der Lessing-Akademie berichtete unserer Zeitung am Donnerstag von einem gewissen „Sperrfeuer“, das es nach der Bekanntgabe der Preisträgerin gegeben habe: Seitenlange Briefe seien eingegangen, in denen Geipel nachgewiesen werden sollte, sie habe in puncto Sport an manchen Stellen die Fakten verdreht.

Wann könnte es „geschafft“ sein?

Es kann hier nicht begutachtet werden, wie es im Detail um den Gehalt solcher, erstmal schwer nach alter Seilschaft aussehenden Aktionen steht. Umkämpfte Zonen, möchte man sagen. Ernsthafter zu prüfen ist meines Erachtens die Frage, ob sie nicht auch etwas Wohlfeiles an sich haben, die Forderungen nach der offenen posttraumatischen Debatte. Wann könnte derlei wirklich „geschafft“ sein? Wo wurde oder wird sie doch geführt? Würde ein 19-jähriger Brandenburger Ines Geipel womöglich mit Recht absprechen, dass sie wirklich so erschöpfend gut über ihn Bescheid weiß?

Doch wie gesagt: Wer sich mit Ines Geipel in die „Umkämpfte Zone“ begibt, hat sich für eine anregende Lektüre entschieden. Da ist nichts glatt und gut. Sie setzt sich zwischen viele Stühle – und versucht, das Beste draus zu machen: ihre Form von Literatur.

Ein Artikel über Ines Geipel, die ihrerseits das Buch bis an den Rand mit akkurat passenden Zitaten von Psychologen, Dichterinnen, Regisseuren und vielen anderen klugen Leuten gefüllt hat, kann ruhig mit einem besonderen Zitat enden, oder? Heinz Piontek (1925-2003) hat mal geschrieben: „Auf den Schmerz bin ich losgegangen/ wütend mit Wörtern/ wie Äxten. (...) Der Schmerz, der vermaledeite, bekräftigt/ ein aufstrahlendes Land in mir./ Ich nehme mir die Freiheit, der zu sein,/ der sich auf eine/ noch unbekannte Seite schlägt.“

Ja, das passt zu ihr. „Ich glaube an den konstruktiven Schmerz“, sagte die Preisträgerin ziemlich am Schluss des Leserforums. Sie sagte es nicht selbstgewiss. Eher prüfend, beinahe unsicher. Und schaute nachdenklich ins Publikum.