Braunschweig. Der Musiker Gil Ofarim klagt über Diskriminierung in einem Leipziger Hotel. Nicht nur jüdische Stimmen aus der Region finden das glaubhaft.

Weil er eine Halskette mit Davidstern-Emblem trug, soll der Popmusiker Gil Ofarim am Montagabend an der Rezeption des Leipziger Hotels „Westin“ angefeindet worden sein. In einem Handyvideo, das Ofarim über das Internet verbreitet hat, schildert der 39-Jährige sichtlich angefasst und detailreich, wie er kurz zuvor vom Rezeptionisten des zur Kette Marriot gehörenden Hauses am Einchecken gehindert worden sei. Der Mitarbeiter habe ihn aufgefordert, den Davidstern „einzupacken“, um bedient zu werden.

Nach dem Vorfall erklärten sich hunderte Demonstranten und etliche Prominente solidarisch mit Ofarim. Im Internet wird seitdem heftig über den Vorfall debattiert. Nachdem der beschuldigte Hotelmitarbeiter angeblich in Sozialen Netzwerken bedroht wurde, erhob er seinerseits Vorwürfe – und erstattete Anzeigen – gegen Unbekannt wegen Bedrohung und gegen Ofarim wegen Verleumdung. Schließlich sei alles ganz anders gewesen. Im Gespräch mit unserer Zeitung äußern sich nun Vertreter jüdischer Gemeinden sowie der Hotelbranche unserer Region zu dem Vorfall.

Fürst: Das hätte ich mir nicht vorstellen können

Michael Fürst, Präsident des Landesverbands der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, zeigt sich

Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.
Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. © regios24 | Darius Simka

erschüttert von Ofarims Schilderung. „Dass jemand im Einchecken in ein Hotel gehindert wird, weil er sich als Jude zu erkennen gibt, das hätte ich mir nicht vorstellen können“, sagt Fürst. „Das erinnert an ganz schlimme Zeiten.“ Wenn Ofarims Schilderung zutreffe – und dies unterstelle er – müsse dieser Vorfall extrem ernst genommen werden.

Gleichzeitig warnt Fürst davor, den Vorfall zu verallgemeinern und als typisches Beispiel für ganz Deutschland zu betrachten. „In Niedersachsen wird Sie niemand angreifen, weil Sie eine Kippa tragen“, ist Fürst, der eine Rechtsanwaltskanzlei in Hannover betreibt, überzeugt. Aus Fürsts Sicht ist es kein Zufall, dass Ofarim ausgerechnet in Leipzig mutmaßlich antisemitisch diskriminiert wurde. Er verweist hierbei etwa auf die hohe Zustimmung zur AfD in Sachsen.

„Nachhaltige Ermittlungsarbeit ohne Ausflüchte nötig“

Von den Strafverfolgungsbehörden erwartet der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden jetzt nicht weniger als eine „nachhaltige Ermittlungsarbeit, die sich nicht mit Ausflüchten zufrieden gibt“. Aber müsste Ofarim dafür nicht Anzeige erstatten, was er Agenturberichten zufolge bisher nicht getan hat? „Nein“, sagt der Jurist Fürst. Bei den fraglichen Straftatbeständen müsse die Staatsanwaltschaft von Amts wegen ermitteln. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, könne Ofarim zudem Schmerzensgeld verlangen. Und dem Hotelmitarbeiter müsse fristlos gekündigt werden.

Dehoga-Vertreter: Ein „No-Go“ für Gastronomen

Der Geschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga Bezirk Braunschweig-Harz Mark Alexander Krack sieht das ähnlich. „Was da in Leipzig offenbar passiert ist, ist ein absolutes No-Go für unsere Branche“, sagt er. „Das widerspricht jeder Vorstellung von Weltoffenheit und Gastfreundschaft.“ Antisemitismus oder Ausländerfeindlichkeit habe in der Gastronomie nichts verloren. Was Ofarim offenbar erlebt habe, sei nicht nur respektlos, sondern auch rechtswidrig.

Mark Alexander Krack, Geschäftsführer des Dehoga-Bezirksverbands Braunschweig-Harz. 
Mark Alexander Krack, Geschäftsführer des Dehoga-Bezirksverbands Braunschweig-Harz.  © Dehoga | Privat

Dieses Thema, betont Krack, sei für Hoteliers und Gastronomen nicht nur im Umgang mit Gästen wichtig. Auch mit Blick auf das eigene Personal habe die Branche eine besondere Verantwortung. Dass das Gastgewerbe Nachwuchsprobleme hat und seit langem auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, ist kein Geheimnis. „Viele Betriebe haben bunt gemischte Belegschaften und müssen trotzdem gut funktionieren“, erklärt er. Deshalb sei es „in ihrem ureigenen Interesse, dass keine Diskriminierung auftritt“. Sollte sich bestätigen was Ofarim berichtet, ist sich Krack sicher, werden die betreffenden Mitarbeiter Schwierigkeiten haben, in der Branche je wieder Fuß zu fassen. Das Leipziger Hotel hat mittlerweile zwei Mitarbeiter beurlaubt.

Zunehmender Antisemitismus in Deutschland

Rabbiner Yakov Yosef Harety von der Orthodoxen Jüdischen Gemeinde in Wolfsburg sieht in Ofarims Bericht ein Zeichen für zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. „Wie kann es sein, dass wir im Jahr 2021, in dem wir 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland feiern, immer noch angefeindet werden, wenn wir jüdische Symbole zeigen?“, fragt er. „Es darf nicht sein, dass wir unsere Symbole verstecken müssen – egal ob es sich, wie bei Ofarim, um den Davidstern handelt, oder um mich, wenn ich meine Kippa trage.“

Keinesfalls möchte der Rabbiner Ermittlungen vorgreifen. Dennoch geht er davon aus, dass die Vorwürfe stimmen. Empörend findet er deshalb auch die „Chuzpe“ des beschuldigten Rezeptionisten, Ofarim nun wegen Verleumdung anzuzeigen. Laut den Leipziger Ermittlern schilderte er den Vorfall nämlich „deutlich abweichend von den Auslassungen des Künstlers“, wie ein Sprecher der Leipziger Polizei am Mittwoch mitteilte.

Im Gespräch mit unserer Zeitung beklagt Harety, dass das Problem Antisemitismus immer erst dann öffentlich breit diskutiert werde, „wenn wieder etwas passiert ist“. Die Aufgabe, „dafür zu sorgen, dass so etwas künftig nicht mehr möglich ist“, stelle sich permanent. Noch müsse er sich leider jeden Tag aufs Neue fragen: Was wird morgen als nächstes passieren?

Wolfsburger Gemeindevorstand: Schulen sind gefragt

Dimitri Tukuser, Vorstand der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Wolfsburg, sieht in antisemitischen Vorfällen eine Verpflichtung für die Schulen, mehr Austausch und Kennenlernen zwischen Juden und Nichtjuden zu ermöglichen. Wenn man sich konkret in der Realität begegnet und austauscht, haben Vorurteile keine Chance, ist er überzeugt. Im Zweifelsfall heiße das auch, dass die Lehrer mit ihren Klassen „raus aus der Schule“ müssen – etwa um der benachbarten jüdischen Gemeinde einen Besuch abzustatten. Leider hätten viele Menschen in Deutschland immer noch nur eine abstrakte Vorstellung von Juden. „Die meisten kennen den Nahost-Konflikt, wissen von Auschwitz und vom Mord an 6 Millionen, haben aber noch nie mit einem Juden gesprochen“, berichtet Tukuser, der sich als Sozialarbeiter regelmäßig mit Schülern austauscht. In Schulen erlebe er aber immer wieder, dass man auch mit Jugendlichen mit Vorurteilen ins Gespräch komme. Die Voraussetzung dafür sei freilich, sie nicht sofort „in die rechte Ecke zu stellen“.

Die Anfeindung, die Gil Ofarim mutmaßlich erlebt hat, ist für Tukuser ein „Weckruf für uns alle, darüber nachzudenken, was wir falschmachen“. Daran, dass die Schilderung des Popsängers stimmt, hat er wenig Zweifel, wie alle Gesprächspartner unserer Zeitung. „Ich halte das für absolut glaubwürdig. Wenn man das Video sieht, merkt man, dass das aus vollem Herzen kommt“, sagt der Wolfsburger. „Tränen lügen nicht.“

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