Braunschweig. Christian Dürr spricht über die demographische Krise, die Trägheit der Groko und sein Verständnis von Digitalisierung.

Die Story „Der nächste Finanzminister trägt Drei-Tage-Bart“ brachte Spiegel-Online genau an dem Tag, als Christian Dürr zum Interview ins BZV-Medienhaus gefedert kam. Und Dürr (44) ist in der FDP-Bundestagsfraktion für Haushalt und Finanzen zuständig. Und Dürr war ungefähr seit drei Tagen nicht rasiert…

Aber zunächst fragten wir den Mann aus Ganderkesee brav nach seinen Erfahrungen im Wahlkampf-Endspurt. Die Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen: Dürr spricht ungemein schnell, sehr sicher, ohne jedes Zaudern.

Herr Dürr, ich habe ein Plakat gesehen, auf dem Sie vor dem Slogan „Nie gab es mehr zu tun“ stehen. Das klingt irgendwie anstrengend. Stehen Sie derzeit manchmal morgens auf und denken: O je, dieser Wahlkampf…?

Das wirkt jetzt vielleicht total verrückt. Aber mir macht das Spaß. Manchmal entsteht ja der Eindruck, die Politiker würden die ganze Zeit in Berlin herumsitzen und nur miteinander reden. Das stimmt zwar so nicht, aber natürlich redet man viel miteinander. Umso spannender finde ich es, jetzt im Wahlkampf darüber zu sprechen, was die Menschen in den verschiedenen Regionen von Niedersachsen bewegt. Ich empfinde es als das Privileg eines Abgeordneten, so unfassbar viele unterschiedliche Menschen zu treffen.

Wie schaffen Sie es, diesen Menschen nun gerade Ihr persönliches Schwerpunkt-Thema zu veranschaulichen? Der Bundeshaushalt kommt manchem vor wie eine Art Milliarden-Jonglage…

Manchmal ist das ganz einfach. Ich möchte ein Thema nennen, das oft zur Sprache kommt, wenn ich mittelständische Betriebe besuche. Gleich neben dem Ärger über die Bürokratie und die mangelhafte Digitalisierung kommt der Unmut über den Mangel an Arbeitskräften. Es fehlen Fachkräfte, aber auch diejenigen, die man anlernen könnte. Und schon sind wir nämlich beim Bundeshaushalt: Fast ein Drittel der Bundesausgaben fließen als Zuschuss in die gesetzliche Rentenversicherung. Das ist berechtigt, das sind die Ansprüche von Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben. Aber die Beiträge der Versicherten, die das finanzieren, reichen eben längst nicht mehr dafür aus. Wir haben eine veritable demographische Krise in Deutschland. Wer für eine gute Rente ist, muss auch für mehr Arbeitskräfte sein. Dabei ist die Einwanderung in den Arbeitsmarkt ein wichtiger Faktor. Ich spreche jetzt nicht über Flüchtlingspolitik und humanitäre Hilfe, sondern von organisierter Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Ich persönlich habe die Zahl von 500.000 Einwanderern pro Jahr vorgeschlagen. Das ist eine große Aufgabe. Das muss organisiert werden, um die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren. Es ist eine zentrale Wohlstandsfrage – und die Große Koalition hat in dieser Hinsicht völlig versagt.

Einwanderung? Haben Sie mit solchen Vorstößen persönlich eine linksliberale Duftmarke gesetzt?

Nein, gar nicht. Die Frage der Einwanderung in den Arbeitsmarkt hat nichts mit der Spannung zwischen „wirtschaftsliberal“ und „bürgerrechtsliberal“ zu tun. Sondern hier begegnen sich Weltoffenheit und wirtschaftliche Vernunft. Diese Verbindung ist die Stärke der FDP. Und Länder wie Neuseeland und Australien machen es uns ja auch vor. Die Leute in Deutschland sind auch gar nicht gegen Einwanderung. Sie sind gegen unkontrollierte Einwanderung. Politische Mitbewerber verstehen das nicht. Ich selbst war 2017 beteiligt, als genau diese Fragen mit Blick auf die damals mögliche „Jamaika-Koalition“ verhandelt wurden. Ich kann da jetzt nicht zu viel ausplaudern, aber sowohl die Union als auch die Grünen haben schon damals nicht verstanden, wie wichtig dieses Thema ist.

Ein anderes wichtiges Thema ist die Digitalisierung. Die FDP schreibt sich das auf die Fahne, ist aber als liberale Partei eigentlich auch für Datenschutz, oder?

Ich halte nichts davon, die beiden Fragen gegeneinander auszuspielen. Natürlich bin ich für Datenschutz. Und für Cybersicherheit. Daten dürfen nicht in falsche Hände geraten. Aber Datenschutz wird bei uns so oft vorgeschoben – zum Teil von politischen Mitbewerbern, die zu faul sind, über Digitalisierung nachzudenken. Und übrigens sind die Daten nicht nur deshalb sicher, weil sie auf Papier stehen. Durch intelligente Digitalisierung kann man die Daten sogar sicherer machen. Fest steht: Dieser Staat funktioniert nicht gut genug. Ich möchte an das Motto der Esten erinnern. Dort heißt es zum Beispiel: Der Staat darf von den Bürgern keine Informationen verlangen, die er eigentlich schon hat. Davon sind wir meilenweit entfernt. Warum ist das so? Das Antragswesen ist furchtbar kompliziert und zähflüssig. Warum funktioniert der Staat nicht so gut wie eine Banking-App? Das wäre der Job eines Digitalisierungsministeriums, das wir fordern.

Der „Spiegel“ schreibt, der nächste Finanzminister trage auf jeden Fall Drei-Tage-Bart. Gemeint sind Robert Habeck oder Ihr Parteichef Christian Lindner. Auch hat Lindner im Juli in der FAZ zum Thema Bundesfinanzministerium einen Satz gesagt, der sich wie irgendetwas zwischen Bewerbung und Bedingung gelesen hat. Fühlen Sie sich als FDP-Finanzpolitiker an dieser Stelle zurückgesetzt?

Im Gegenteil. Ich habe dringend dazu geraten. Das Finanzressort ist das Schlüsselressort. Christian Lindner hat gesagt, dass es mit uns keine Steuererhöhungen geben werde. Insofern bin ich mehr als happy, dass er selbst Lust dazu hat und bereit dazu ist, in einem möglichen Regierungsbündnis mit FDP-Beteiligung als Finanzminister Verantwortung zu übernehmen und genau dafür zu sorgen.

Zur Person

Christian Dürr, geboren 1977, ist ein FDP-Politiker aus Ganderkesee bei Oldenburg. Nach dem Zivildienst und dem Wirtschaftsstudium in Hannover machte er Karriere in der Partei. 2003 wurde er Mitglied des Landtags in Hannover, seit 2017 sitzt er im Bundestag. Dürr ist verheiratet und Vater zweier Kinder.