Hannover. Niedersachsen will Lernrückstände durch die Corona-Einschränkungen nach den Ferien möglichst ausgleichen – doch das wird schwierig.

Möglichst normal – diese Parole haben Deutschlands Kultusministerinnen und -minister für das kommende Schuljahr 2021/2022 ausgegeben. Ob die Realität sich dem Beschluss der Kultusministerkonferenz fügt, dürfte von neuen Corona-Varianten und dem Schutzstandard in den Klassenzimmern abhängen. Inwieweit das am Mittwoch endende „Corona-Schuljahr“ ein verlorenes Jahr war, ist umstritten. Dabei geht es um die sogenannten Lernrückstände: wie groß, wie schwerwiegend, wie aufholbar sind sie? Doch die Probleme gehen über versäumten Stoff wohl weit hinaus.

Was das Beschreiben der Ausgangslage angeht, gestattet sich das Land einen gewissen Spielraum - auch aus grundsätzlichen Erwägungen. „Ganz falsch“ nennt Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) Behauptungen, die Schülerinnen und Schüler hätten wegen Corona nichts gelernt. „Ich bin überzeugt, dass auch ganz viel gelernt wurde“, so der Minister. Man solle Ängste und Verunsicherungen nicht verstärken.

„Die Mitschüler fehlten“

Reine Ermutigungsrhetorik ist das nicht: Der Minister kann sich auf sehr differenzierte Rückmeldungen aus Schulen stützen, zuletzt am Freitag in einer großen Talkrunde beim Niedersächsischen Sparkassenverband mit Schulleitungen. Als interessierter Fragesteller war auch Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) in der Runde. „Wir haben viel gearbeitet, auch wenn es kein so schönes Arbeiten war, weil die Mitschüler fehlten“, hatte auch Schüler Johannes Kaufmann aus der 11D am Braunschweiger Wilhelm-Gymnasium unserer Zeitung vor einigen Wochen gesagt. Volker Ovelgönne, Leiter des Braunschweiger Wilhelm-Gymnasiums, sieht es ähnlich wie der Minister und viele andere: „Der Live-Unterricht ist durch nichts zu ersetzen – aber der Distanzunterricht war keine verlorene Zeit.“ Stichworte: Selbstorganisation, mehr Digital-Kompetenz.

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Minister schrieb an einen Schüler

„Viel gelernt“ ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. „An vielen Stellen hat das Distanzlernen nicht gut funktioniert, insbesondere im ersten Lockdown“, räumte Tonne Ende April in einer Antwort an einen Gymnasiasten ein, der dem Minister eine Frust-mail geschickt hatte. Schlagzeilen machte eine Analyse Frankfurter Psychologen von der Goethe-Universität. Sie hatten elf Studien zum Thema ausgewertet, von Deutschland bis China. Dem „Homeschooling“ bescheinigten sie als Effekt eine „Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbußen“, besonders jüngere Kinder und solche aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern seien betroffen. Dies lässt sich dann unter anderem in Studien zur Situation in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz nachlesen. „Niederlande: Im Fernunterricht fast nichts dazugelernt“ heißt es in einer Analyse beim „Deutschen Schulportal“, in der Schweiz habe sich das Lerntempo an Grundschulen im Fernunterricht halbiert. Und Deutschland? Bei einer Allensbach-Befragung gab ein knappes Drittel der teilnehmenden Schulkinder an, beim Lernstoff „deutlich“ im Rückstand zu sein. Melanie Schröter, Leiterin der Grundschule Gliesmarode in Braunschweig, sagt: „Wir haben mindestens sechs Kinder, die definitiv in der Coronazeit ihre Lernrückstände weiter vertieft haben.“ Zur zusätzliche Förderung lasse man die AG-Stunden ausfallen und versuche „Doppelbesetzung“ zu ermöglichen.

Land will Lernstand erheben

Auch im Kultusministerium sieht man die Lage letztlich realistisch. „Die Schulschließungen aufgrund des Lockdowns werden Lernrückstände erzeugen“, so auch eine Erklärung vom 11. Februar. „Die Bestimmung der individuellen Lernausgangslage und das Ausgleichen möglicher Lernrückstände wird eine zentrale Herausforderung des nächsten Schuljahres sein“, hieß es dann am 22. Juni in einer Stellungnahme Tonnes zum neuen Schuljahr. „Auch im vergangenen Jahr haben Schülerinnen und Schüler viel dazu gelernt. Trotzdem sind Lerninhalte auf der Strecke geblieben oder konnten nicht in dem erforderlichen Maße gesichert werden“, konstatiert schließlich ein buntes Handout des Kultusministeriums.

„Wir werden Lücken schließen“

„Wir werden das Schuljahr nutzen, um Lücken zu schließen und Defizite zu kompensieren“, verspricht Sebastian Schumacher, Sprecher im Kultusministerium. Da die Ausgangslagen sehr unterschiedlich sein dürften, dürfe man aber keine Schablone über das ganze Land und alle Schulen legen. Beim Gegensteuern ist auch der Bund im Boot. „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ heißt das Bundesprogramm, das Niedersachsen um 100 Millionen Euro auf 222 Millionen Euro aufstockt. Daraus wird unter anderem ein Sonderbudget für Schulen finanziert. „Lernrückstände abbauen“ zählt ausdrücklich zu den Schwerpunkten des Programms. Aus dem „Sonderbudget“ sollen Schulen daher nicht nur Projekte zur „ganzheitlichen Aufarbeitung der Pandemieerfahrung“ finanzieren können, sondern auch „Unterstützungsangebote mit Lehramtsstudierenden, pensionierten Lehrkräften, Nachhilfeinstituten, Vereinen und Verbänden. Die Stundentafeln können bereits flexibel gehandhabt werden, in den Kerncurricula (Lehrplänen) der Grundschulen und Sekundarstufe I soll es „Schwerpunktsetzungen“ geben. Lesen, Schreiben, Rechnen sollten gestärkt werden, damit die Kinder „eine solide Basis haben“, heißt es in einer Erklärung des Kultusministeriums. In einem Erlass vom 14. Juli werden die Schulen verpflichtet, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Förder- und Unterstützungsbedarfe aufzuarbeiten.

Kommission empfiehlt Kleingruppen

„Insbesondere die Wirksamkeit von Tutorenmodellen, die eine Einzel- bzw. Kleingruppenförderung in enger Abstimmung mit den verantwortlichen Lehrkräften ermöglichen, ist durch empirische Evidenz gut belegt“, heißt es in einem Papier der „Ständigen wissenschaftliche Kommission“ der Kultusministerkonferenz. Die Realität allerdings sieht anders aus: Lehrermangel und oft große Klassen. Also nichts mit Tutoren, nichts mit Kleingruppen? Bei der Bildungsdiskussion baten Lehrer Tonne, bloß nicht einfach zur „alten Schule“ zurückzukehren. Und würdigten das Arbeiten in kleineren Klassen.

Gespräche mit Eltern im Herbst

Niedersachsen will zunächst die „Lernausgangslage“ der Schulkinder in den Kernfächern feststellen. Im Herbst soll es verbindliche Beratungsgespräche unter Einbeziehung der Eltern geben. Doch worum es eben auch geht, sagt André Blechinger, Leiter der Grund- und Hauptschule Rüningen: „Das soziale Miteinander ist beim Distanzunterricht auf der Strecke geblieben. Die Klassengemeinschaft muss sich neu finden und gestärkt werden.“

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