Braunschweig. EU-Kommission klagt: Deutschlands Naturschutzgebiete werden nicht korrekt ausgewiesen. Auch in der Region bringt das Umweltschützer auf die Palme.

Mitte Februar platzte der EU-Kommission der Kragen: Nach vielen Jahren des Wartens und Mahnens kündigte Brüssel an, Deutschland vorm Europäischen Gerichtshof zu verklagen – wegen der schleppenden und mangelhaften Ausweisung von Naturschutzgebieten. „Da kann Einiges auf Deutschland zukommen“, sagt Karl Friedrich Weber vom Umweltverband BUND in Helmstedt im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Umweltschutz-Veteran denkt dabei auch an Gebiete in unserer Region, in denen Flora und Fauna, so seine Überzeugung, längst nicht so geschützt werden, wie es das Gesetz verlangt. Er freut sich daher über die Klage: „Ich bin froh. Die EU hat wirklich lange genug geduldig zugeschaut.“

„Wenn ich sehe, wie sich der Zustand mancher Waldflächen verschlechtert hat, kann man den Mut verlieren“, sagt Karl Friedrich Weber vom BUND Helmstedt. Der 76-Jährige ist pensionierter Förster. 
„Wenn ich sehe, wie sich der Zustand mancher Waldflächen verschlechtert hat, kann man den Mut verlieren“, sagt Karl Friedrich Weber vom BUND Helmstedt. Der 76-Jährige ist pensionierter Förster.  © BZV | Sebahat Ariifi

Weber findet es frustrierend, wie zäh und ineffizient der Naturschutz umgesetzt wird. Seit den siebziger Jahren engagiert sich der heute 76-jährige pensionierte Förster für Umwelt- und Naturschutz. „Wenn ich sehe, wie sich der Zustand mancher Waldflächen seitdem verschlechtert hat, kann man schon den Mut verlieren.“ Ein treffendes Beispiel ist aus seiner Sicht das Beienroder Holz, ein kompaktes Laubwaldgebiet bei Lehre im nördlichen Landkreis Helmstedt. Zwar stehen mehr als 500 Hektar davon unter Naturschutz. Allerdings fehle es an Regeln, wie dieser Schutz konkret umzusetzen ist, erklärt Weber. In der Folge könnten die Landesforsten, denen der Wald gehört, „wie verrückt reinhacken“.

Kahlschläge trotz „Verschlechterungsverbots“

In einer Stellungnahme, die Weber im Auftrag mehrerer Naturschutzvereinigungen angefertigt hat, spricht er von Kahlschlägen in Eichenwaldbeständen des Beienroder Holzes – „mit erheblicher negativer Auswirkung auf die Schutzgüter“. Was er damit meint, zeigen die Fotos, die er unserer Zeitung vorlegt. Darauf: fußballfeldgroße Flächen mit Baumstümpfen, aufgewühltem Boden und den breiten Reifenspuren. Die forstwirtschaftliche Nutzung habe zu einer „nachweisbaren Verschlechterung der Erhaltungszustände von Lebensräumen und Arten geführt, deren Auswirkungen sich weit in die Zukunft fortsetzen werden“. Weil die derzeitigen Regeln solche Schädigungen nicht verhinderten, ist aus Webers Sicht der nun eingeschlagene Weg vor die Gerichte alternativlos. Auf Facebook drückt er in scharfen Worten seine Hoffnung aus: „Die Skandalgeschichte der Verschleppung und Bekämpfung des Netzes Natura 2000 (also der Gesamtheit der europäischen Schutzgebiete, Anm. der Red.) durch die vereinigte Interessen-Lobby dürfte nun ein Ende finden, ebenso wie die Phraseologie der Nebelwerfer.“

Seit 1992 gilt das „Verschlechterungsverbot“ für FFH-Gebiete. Diesen Kahlschlag im Beienroder Holz dokumentierte Weber 2011.
Seit 1992 gilt das „Verschlechterungsverbot“ für FFH-Gebiete. Diesen Kahlschlag im Beienroder Holz dokumentierte Weber 2011. © Privat | Karl Friedrich Weber

Aneinanderreihung von Verzögerungen

Tatsächlich ist die Geschichte der FFH-Schutzgebiete eine Reihe von Verzögerungen und Versäumnissen. Die EU-Richtlinie Flora-Fauna-Habitat (FFH), die den Erhalt natürlicher Lebensräume und den Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen regelt, stammt bereits aus dem Jahr 1992. Ihr zufolge mussten die Mitgliedstaaten die von ihnen selbst ausgewählten Gebiete binnen sechs Jahren unter Schutz stellen. Für die Lebensräume auf den Flächen sollte ab sofort ein „Verschlechterungsverbot“ gelten.

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Deutschlands Liste kam mit Verspätung

Doch von vorneherein glänzte Deutschland nicht mit Pünktlichkeit. Obwohl alle EU-Mitgliedsländer verpflichtet waren, bis 1998 vollständige Listen der künftigen Schutzgebiete einzureichen, schickte die Bundesrepublik ihre Liste erst 2004 nach Brüssel. Darauf: 4606 schützenswerte Gebiete.

Die EU drückte ein Auge zu, Deutschland sollte seine Hausaufgaben nachholen und die Gebiete nun bis 2009/10 unter Schutz stellen. Als dies fünf Jahre nach Fristende immer noch nicht geschehen war, leitete die EU-Kommission 2015 ein Verfahren wegen Vertragsverletzung ein. In dessen Rahmen verpflichtete sich die Bundesrepublik, die Gebiete bis Ende 2018 unter Schutz zu stellen. „Dies stellte bereits eine erhebliche Verzögerung gegenüber der rechtlich verbindlichen Frist dar“, erklärt eine Sprecherin der EU-Kommission unserer Zeitung. Mahnung folgte auf Mahnung. Doch bis heute sind noch nicht alle Schutzgebiete ausgewiesen. Daher nun die Klage. Kommt der Europäische Gerichtshof zum Schluss, dass Deutschland gegen EU-Recht verstößt, müssen die Gesetze und Vorschriften angepasst werden. Zudem drohen hohe Strafen.

Niedersachsen ist Schlusslicht

Deutschlandweites Schlusslicht bei der Ausweisung der Schutzgebiete ist Niedersachsen. Alle noch zu sichernden FFH-Gebiete befinden sich hier. Von den 385 zu schützenden Flächen im Land waren Ende März 2021 noch 19 Gebiete „nicht vollflächig und EU-konform“ gesichert“, wie das Landesumweltministerium unserer Zeitung in einer Antwort schreibt. Man arbeite „mit Hochdruck“ daran.

Die Karte des Bundesamts für Naturschutz zeigt die europäischen Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebiete (FFH) in unserer Region. Ausgewiesen sind diese mittlerweile alle, unklar ist, ob der Schutz reicht.
Die Karte des Bundesamts für Naturschutz zeigt die europäischen Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebiete (FFH) in unserer Region. Ausgewiesen sind diese mittlerweile alle, unklar ist, ob der Schutz reicht. © BfN | BfN/Jürgen Runo

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Gefragt, warum die Ausweisung der FFH-Naturschutzgebiete in Niedersachsen in den zurückliegenden Jahren derart verschleppt wurde, verweist das Ministerium zum einen auf die Kreise und kreisfreien Städte. Diese sind für die Einrichtung von Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebieten verantwortlich. Zum anderen erklärt der Sprecher von Umweltminister Olaf Lies (SPD) die Versäumnisse mit der Politik der CDU-geführten Vorgängerregierungen. Diese hätten bis 2013 darauf gesetzt, die Gebiete mittels „Vertragsnaturschutz“ zu sichern, also durch Vereinbarungen mit den Besitzern der Flächen. „Diese Auffassung“ habe sich aber als „nicht tragfähig“ erwiesen, „da die geforderte Sicherung dauerhaft und drittwirksam sein muss“.

Lies drückt nun tatsächlich auf die Tube. Nach einem jahrelangen Prozess mit Bittschreiben, Zielvereinbarungen, dem Formulieren von „Arbeitshilfen“ und Anfordern von Fortschrittsberichten wies sein Ministerium die Kreise und Städte 2020 erstmals an, die Sicherungen endlich abzuschließen. Im Februar 2021 erfolgte eine „zweite fachaufsichtliche Weisung“. Die dadurch gesetzte – vorläufig letzte – Galgenfrist läuft Mitte Juli ab.

Minister Lies am Ende seiner Geduld

Dass das Ministerium am Ende seiner Geduld ist, macht das Beispiel des Naturschutzgebiets „Barnbruchwiesen und Ilkerbruch“ deutlich, das überwiegend auf Wolfsburger Gebiet und zu einem kleinen Teil im Kreis Gifhorn liegt. In dieser Landschaft aus Grünland, vereinzelten Wäldern mit Bächen und Feuchtgebieten leben zahlreiche geschützte Pflanzen- und Tierarten, darunter Biber und Fischotter.

Nachdem der Rat der Stadt Wolfsburg die Sicherungsverordnung im Juli 2020 beschossen hatte, lehnte der Gifhorner Kreistag diese im Dezember 2020 ab. Begründung laut Landkreis: „An dem Inhalt wurde kritisiert, dass in dieser Verordnung Auflagen und Verbote enthalten seien, die die Bewirtschaftung des Gebietes, die Gewässerunterhaltung und die ordnungsgemäße Ausübung der Jagd unangemessen einschränkten.“ Für Weber ist dies ein „ganz besonders krasses Beispiel für den Lobbyismus der Jägerschaft, wie er leider – neben dem der Land- und Forstwirtschaft – in vielen niedersächsischen Kreistagen stark vertreten ist.“

Eingriffe auf der Fläche des FFH-Gebiets Beienroder Holz

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FFH 102, Abt. 2076 a2 Kahlschlag, Eichensaat, Entwässerung (8).JPG
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Kahlschlag, FFH-102 Abt. 2071a2 - April 2012 (2).JPG
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Machtwort von Minister Lies

Dem Umweltministerium genügten die vom Kreis Gifhorn dargelegten Gründe denn auch nicht. Lies sprach ein Machtwort: Er wies den Landkreis an, dem Naturschutzgebiet zuzustimmen. „Wo zügige Sicherungen erforderlich sind, vor Ort aber abgelehnt werden, da die Dringlichkeit nicht erkannt wird, werden wir weiter auch zu diesem Mittel greifen“, lässt er sich in einer Mitteilung zitieren.

Lies sieht die Sicherung der niedersächsischen FFH-Gebiete damit auf der Zielgeraden. Ob es mit der Ausweisung der letzten Flächen getan ist, steht aber auf einem anderen Blatt. Außer der Verzögerung bemängelt die EU-Kommission nämlich auch das Fehlen „hinreichend detaillierter und quantifizierter Erhaltungsziele“. Was damit gemeint ist, erklärt der Helmstedter Umweltschützer Weber: „Um effektiv zu schützen, müssen die Verordnungen der Städte und Landkreise die Ausgangssituation des Gebiets beschreiben.“ Schließlich könnten die Behörden nur so überprüfen, ob sich der Erhaltungszustand von Flora und Fauna verschlechtert hat – und gegebenenfalls gegensteuern. Genau diese Möglichkeit, um den Bestand von Arten zu schützen oder wiederherzustellen, fehle aber.

„Wo zügige Sicherungen erforderlich sind, vor Ort aber abgelehnt werden, werden wir weiter auch zu diesem Mittel greifen“, sagt Umweltminister Olaf Lies, SPD, zu seiner Anweisung an den Landkreis Gifhorn.
„Wo zügige Sicherungen erforderlich sind, vor Ort aber abgelehnt werden, werden wir weiter auch zu diesem Mittel greifen“, sagt Umweltminister Olaf Lies, SPD, zu seiner Anweisung an den Landkreis Gifhorn. © dpa | Hauke-Christian Dittrich

Weber: Verordnungen „mit heißer Nadel gestrickt“

Auch beim Schutz des Beienroder Holzes sieht Weber diese Schwachstelle. Ende März hat der Landkreis Helmstedt die „formaljuristische Sicherung“ der europäischen Naturschutzgebiete abgeschlossen – mit Verordnungen, von der Weber sagt, sie seien „mit heißer Nadel gestrickt“. Gefragt, warum so lange mit der Ausweisung gewartet wurde, verweist auch der Landkreis auf die wechselnden Strategien der Landespolitik. Erst im 2018 begann der Landkreis, das Beienroder Holz unter Schutz zu stellen – zunächst aber nur als Landschaftsschutzgebiet. Dass man sich letztlich doch für den Status als Naturschutzgebiet entschied, ging auch auf die Stellungnahme der Naturschutzverbände zurück. „Das Beteiligungsverfahren und die rechtlichen Vorgaben ergaben, dass das Gebiet als Naturschutzgebiet unter Schutz zu stellen ist“, so ein Sprecher des Landkreises.

Management-Pläne noch in Arbeit

Auch bei der Frage, ob die Erhaltungsziele ausreichend konkret und detailliert dargelegt sind, verweist der Sprecher auf die Vorgaben aus Hannover: „Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass die nach diesen Vorgaben festgelegten Erhaltungsziele den Ansprüchen der FFH-Richtlinie entsprechen.“ Im Übrigens, so der Landkreis würden die Erhaltungsziele derzeit noch „im Rahmen des Managements konkretisiert“. Das heißt: Die konkreten Maßnahmen, mit denen die geschützten Arten im Beienroder Holz erhalten werden sollen, liegen noch nicht auf dem Tisch.

Die Klage der EU zieht die „Selbstverständlichkeit“, mit der der Landkreis bei seiner Verordnung auf die Vorgaben aus Hannover vertraut, nun in Zweifel. Völlig zurecht, sagt Weber: Denn nicht nur beim Beienroder Holz sei die Verschlechterung des Erhaltungszustands „Fakt“ und von Umweltverbänden bestens dokumentiert. In den Verordnungen der Kreise und Städte aber fehle die Messlatte, um solche Veränderungen zu registrieren. Sein Fazit: „Die Schutzverordnungen schützen nicht. Und das fällt uns jetzt auf die Füße.“ Er wünscht den Landkreisen „mehr Rückgrat“, selbst schärfere Regeln auf den Weg zu bringen, die etwa der Forstwirtschaft „keinen Sonderstatus“ einräumten. Er ist sicher, dass die Landkreise eventuelle Klagen von Forstbetrieben, Jägern oder Landwirten nicht fürchten müssten. „Die Rechtsprechung ist da völlig eindeutig.“

Buschwindröschen und Hohler Lärchensporn blühen auf einer Kernfläche im FFH-Schutzgebiet Beienroder Holz bei Lehre im Landkreis Helmstedt. Der Hohle Lärchensporn ist an frische Laubwaldstandorte historisch alter Wälder gebunden. Entwässerungen und Bodenzerstörungen schädigen oder vernichten seine Standorte. Er ist geschützt, aber in feuchten Laubwäldern nicht selten.
Buschwindröschen und Hohler Lärchensporn blühen auf einer Kernfläche im FFH-Schutzgebiet Beienroder Holz bei Lehre im Landkreis Helmstedt. Der Hohle Lärchensporn ist an frische Laubwaldstandorte historisch alter Wälder gebunden. Entwässerungen und Bodenzerstörungen schädigen oder vernichten seine Standorte. Er ist geschützt, aber in feuchten Laubwäldern nicht selten. © Privat | Karl Friedrich Weber

Bund und Länder sind uneins mit der EU-Kommission

Der Dissens mit Blick auf die Erhaltungsziele betrifft aber längst nicht nur Niedersachsen. Er ist grundlegender. Auch das Bundesumweltministerium erklärte in einer Reaktion auf die Klageankündigung der EU-Kommission: Die Vorgaben der EU seien „aus Sicht der Länder rechtlich zu weitgehend. Dem hat sich der Bund angeschlossen“. Die Bundesregierung ist der Auffassung, das die EU-Kommission mit der Forderung, die Erhaltungsziele genauer zu präzisieren, ihre Kompetenzen überschreitet. Die Umsetzung würde einen „immensen finanziellen und verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten“ und sich „vermutlich über viele Jahre hinziehen“. Dass Deutschland imstande ist, solche Verzögerungen des Naturschutzes Wirklichkeit werden zu lassen, hat es längst bewiesen.

Ausgewählte FFH-Gebiete unserer Region

Landkreis Gifhorn: Fahle Heide, Gifhorner Heide, Maaßel, untere Oker

Landkreis Helmstedt: Beienroder Holz, Rieseberg, Lutterlandbruch, Dorm, Eichen-Hainbuchenwälder zwischen Braunschweig und Wolfsburg

Landkreis Peine: Meerdorfer Holz, Klein Lafferder Holz, Binnensalzstelle Klein Oedesse

Landkreis Wolfenbüttel: Asse, Nordwestlicher Elm, Roter Berg, Wälder und Kleingewässer zwischen Mascherode und Cremlingen

Landkreis Goslar: Nationalpark Harz, Salzgitterscher Höhenzug (Südteil), Harly, Ecker und Okertal nördlich Vienenburg

Stadt Braunschweig: Riddagshäuser Teiche, Pfeifengras-Wiese bei Schapen, Schapener Forst, untere Oker

Stadt Salzgitter: Kammmolch-Biotop Tagebau Haverlahwiese, Innerste-Aue (mit Kahnstein), Salzgitterscher Höhenzug (Südteil)

Stadt Wolfsburg: Drömling, Aller (mit Barnbruch), untere Leine, untere OkerA