Celle. Der wohl größte Islamisten-Prozess in Deutschland steht vor dem Abschluss. Die Bundesanwaltschaft und Anwälte haben ihre Plädoyers abgeschlossen.

Abu Walaa bleibt auch am 245. Verhandlungstag dabei: „Ich möchte nichts sagen.“ Die Anwälte haben gerade ihre Plädoyers beendet, nach dreieinhalb Jahren steht am kommenden Mittwoch das Urteil in dem Mammut-Prozess gegen den Hildesheimer Prediger und vier seiner mutmaßlichen Helfer bevor. Es ist der Moment, an dem sich die Angeklagten noch einmal zu den Vorwürfen gegen sie äußern dürfen, sie haben das Recht des letzten Wortes. Doch Ahmad Abdulaziz Abdullah A., wie der Iraker mit bürgerlichem Namen heißt, schüttelt den Kopf. Er will davon keinen Gebrauch machen. Er will weiter schweigen.

Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, als IS-Chef in Deutschland junge Gläubige der Terrormiliz zugeführt zu haben. Seine Anwälte sehen das als nicht erwiesen an und fordern Freispruch. Wo liegt die Wahrheit?

Angeklagte sollen für die große Ausreisewelle 2014/15 mit verantwortlich sein

Das Verfahren gegen den Iraker Ahmad Abdulaziz Abdullah A., alias Abu Walaa, und weitere Islamisten vor dem Oberlandesgericht Celle ist der derzeit wichtigste Terrorprozess Deutschlands gegen ein mutmaßliches IS-Netzwerk. Mussten sich nach dem Zerfall des IS-Kalifats in Syrien bislang vor allem zurückgekehrte IS-Kämpfer vor Gericht verantworten, stehen seit September 2017 jene Männer vor Gericht, die für die große Ausreisewelle 2014/15 mit verantwortlich sein sollen, die mutmaßlichen Hintermänner und Antreiber des Dschihad.

Der Abu-Walaa-Prozess in Zahlen.
Der Abu-Walaa-Prozess in Zahlen. © Jürgen Runo/dpa

Die Bundesanwaltschaft hält die Beweislage am Ende des Prozesses für klarer denn je zuvor: Als ranghöchstes Mitglied hierzulande habe Abu Walaa die zentrale Aufgabe übernommen, die Ideologie des IS zu verbreiten, neue Mitglieder zu rekrutieren und sie auf ihre Ausreise vorzubereiten. Seine mutmaßlichen Helfer hätten in Hinterzimmern für den Dschihad geworben und den geistigen Nährboden für den Terror gelegt, später auch Kontaktnummern für die Ausreise nach Syrien vermittelt und Ausreisewillige teils auch finanziell unterstützt. Verbindungen des mutmaßlichen Netzwerks soll es zum Attentäter auf den Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, gegeben haben ebenso wie zum Essener Tempelbomber Yusuf T.. Bei dem Bombenanschlag auf einen Sikh-Tempel waren im April 2016 drei Menschen verletzt worden. Auch die Angeklagten hätten ausdrücklich Anschläge in Europa gebilligt und gerechtfertigt, so die Bundesanwaltschaft – das seien „Kennzeichen einer verfassungsfeindlichen Ideologie“.

Die Bundesanwaltschaft fordert elfeinhalb Jahre Haft für den Prediger

Den Angeklagten drohen hohe Strafen. Elfeinhalb Jahre Haft fordert die Bundesanwaltschaft für Abu Walaa – für mitgliedschaftliche Beteiligung an der Terrormiliz IS. Als die Forderung im Raum steht, schüttelt der Prediger ungläubig den Kopf. Der 36-Jährige, der auch als „Prediger ohne Gesicht“ bekannt geworden war, weil er in seinen Videobotschaften meist nur von hinten gefilmt wurde, zeigt bis zum Schluss kaum eine Gefühlsregung. Die vier Mitangeklagten dagegen schon. Der Duisburger Hasan C. zum Beispiel, der im Hinterzimmer seines Reisebüros für den IS geworben haben soll, gibt zumindest zu, zeitweise mit dem IS sympathisiert zu haben. Gezielt Kämpfer rekrutiert, habe er aber nicht. Auch sei er nie Teil eines islamistischen Netzwerks mit diesem Ziel gewesen. „Ich werde niemals gemeinsame Sache mit dem Terror und Terroristen machen“, beteuert er in seinem „letzten Wort“. Zeitweise sieht es so aus, als müsse er mit den Tränen ringen.

Mehr über den Prozess finden Sie hier:

Der Hildesheimer Mahmoud O., zermürbt von der langen U-Haft, lässt über seine Verteidiger erklären, dass er tatsächlich in kleinere Betrügereien verstrickt war. Die rechte Hand Abu Walaas in Hildesheim will er aber nicht gewesen sein. Der Dortmunder Boban S. wiederum beharrt darauf, weder zum Dschihad aufgerufen, noch andere radikalisiert und den IS unterstützt zu haben. Auch sei ihm nicht bekannt, dass Abu Walaa der IS-Repräsentant in Deutschland sein soll, geschweige denn, dass es in Hildesheim Schleusungs-Aktivitäten gegeben habe.

Nur einer der Angeklagten hat ein umfassendes Geständnis abgelegt

Ein umfassendes Geständnis im Sinne der Anklage hat bislang nur der Hildesheimer Ahmed F.Y. abgelegt. Er wurde daraufhin im April vorigen Jahres zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt, die Haft hat er bereits im Laufe des Prozesses verbüßt.

Die Anwälte sprechen von einem Schauprozess. Ali Aydin, einer der Verteidiger des Duisburgers Hasan C., geht sogar noch etwas weiter und erhebt schwere Vorwürfe: „Das hier ist eine Art Sündenbockprozess.“ Die Anklage sei konstruiert gewesen, der Senat habe ihr trotzdem folgen wollen. Belastende Zeugen seien als glaubwürdig gewertet, entlastende als Lügner degradiert worden. „Sie blenden aus, was sie nicht sehen wollen“, sagt er in Richtung der Vertreter der Bundesanwaltschaft und der Richter. Eine mehr als drei Jahre dauernde Beweisaufnahme hätte man sich sparen können, wenn das Ergebnis doch schon von Anfang an festgestanden habe.

Abu Walaa, mutmaßlicher Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland, steht mit bedecktem Kopf in einem Gerichtssaal des Oberlandesgerichts, hier im Jahr 2018. Links steht Walaas Verteidiger Peter Krieger. Walaa und vier weitere mutmaßliche, vor Gericht stehende Top-Islamisten sollen Freiwillige für den IS rekrutiert haben.
Abu Walaa, mutmaßlicher Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland, steht mit bedecktem Kopf in einem Gerichtssaal des Oberlandesgerichts, hier im Jahr 2018. Links steht Walaas Verteidiger Peter Krieger. Walaa und vier weitere mutmaßliche, vor Gericht stehende Top-Islamisten sollen Freiwillige für den IS rekrutiert haben. © dpa | Holger Hollemann

Abu Walaas Anwalt Thomas Koll hält den Ermittlungsbehörden zudem Versäumnisse vor. „Sie haben es im Ermittlungsverfahren unterlassen, viele Beweiserhebungen vorzunehmen.“ Außerdem mussten immer wieder Unterlagen nachgeliefert, neue Akten verfügbar gemacht werden.

Die Bundesanwaltschaft hält den Kronzeugen für glaubwürdig

Tatsächlich fußt die Beweisaufnahme in großen Teilen auf den Aussagen von Zeugen: Auf den Angaben des ehemaligen Islamisten Anil O. zum Beispiel, ein Deutschtürke aus Gelsenkirchen, der 2015 die Islam-Unterrichte von zwei Mitangeklagten besuchte und von ihnen dann weiter an Abu Walaa vermittelt worden sein soll. Weil er nach seiner Ausreise zum IS und seiner späteren Flucht umfangreich auspackte, kam er mit einer Bewährungsstrafe davon. Die Aussage des Kronzeugen sei einer jahrelangen Prüfung unterzogen worden, der sie standgehalten habe, sagt die Bundesanwaltschaft. „Seine Geschichte stimmt.“ Seine Aussagen deckten sich außerdem mit denen anderer wichtiger Zeugen. Zudem gebe es Videoaufnahmen, Chatverläufe, Erkenntnisse aus der Überwachung der Angeklagten, die diese belasten.

Die Verteidiger halten Anil O. dagegen für einen Lügner, der die Wahrheit zurechtbog, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Der andere anprangerte, um seine eigene Verantwortung herunterzuspielen und mit einer milden Strafe davonzukommen. Ein Rekrutierungsnetzwerk, wie der Kronzeuge behauptet, habe es nicht gegeben.

Die Anklage fußt auch auf den Aussagen eines V-Mannes

Zudem haben die Angaben des V-Mannes „Murat Cem“ Gewicht: ein Spitzel des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen, der auf das Abu-Walaa-Netzwerk angesetzt war und sich in diesem Umfeld auch an die Fersen des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, heftete. Mehrfach hatte sich das Gericht bemüht, den V-Mann mit dem Behördenkürzel VP01 als Zeugen zu laden, damit die Prozessbeteiligten ihn direkt befragen können. Das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen verweigerte jedoch die Aussage, weil es das Leben des V-Mannes in Gefahr sieht.

Der Prozess wurde von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen begleitet.
Der Prozess wurde von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen begleitet. © dpa | Holger Hollemann

Ein vorgeschobener Grund, meint Anwalt Michael Murat Sertsöz. Murat Cem habe sich längst selbst enttarnt, weil er Reportern des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ freimütig Einblicke in sein Leben gab. Auch vor den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zu dem Berliner Terror-Anschlag sei er gehört worden, mit verzerrter Stimme und verdecktem Gesicht. Wenn man den V-Mann vor Gericht nicht direkt befragen könne, habe das mit einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren nichts mehr zu tun.

Mehr als 120 Zeugen wurden in dem Verfahren geladen

Es sind harte Worte am Ende des Prozesses, der mit großem Aufwand versuchte, die Strukturen um die Hildesheimer Moschee zu durchleuchten. Mehr als 120 Zeugen, eine ganze Regalwand voller Akten, ein großes Sicherheitsaufgebot rund um das Verfahren, immer weitere Zeugen, die nachgeladen wurden – soweit es möglich war. Denn immer noch befinden sich wichtige Akteure in den Krisengebieten in Syrien oder dem Irak in Haft. „Das alles hat alle Prozessbeteiligten erheblich belastet“, sagt Andreas Keppler, Sprecher des OLG Celle. Das Gericht wird jetzt die Aufgabe haben, mögliche Widersprüche in den Aussagen der Zeugen zu beurteilen oder auch die V-Mann-Problematik bei der Beweiswürdigung mit zu berücksichtigen. Das Urteil wird für den 24. Februar erwartet.

Der Deutschlandfunk blickte in einem Hintergrundbeitrag ebenfalls auf den Mammut-Prozess zurück und befragte unter anderem unsere Autorin Katrin Schiebold als Prozessbeobachterin. Den Beitrag finden Sie hier.

Die Angeklagten

Abu Walaa aus Hildesheim: Der Prediger (36) mit kurz rasiertem Haar und langen Bart soll der Chef der Terrormiliz Islamischer Staat in Deutschland sein. Er habe junge Gläubige für den IS rekrutiert und durch seine guten Verbindungen zum IS dafür gesorgt, dass sie innerhalb der Organisation in gute Positionen kommen, so die Bundesanwaltschaft. Die Anklage plädiert u.a. wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an der Terrorgruppe auf elfeinhalb Jahre Haft. Die Verteidiger fordern einen Freispruch. Die Vorwürfe seien nicht erwiesen. Abu Walaa selbstn schweigt zu den Vorwürfen selbst.

Hasan C. aus Duisburg: Der 55-Jährige soll in seinem Duisburger Reisebüro junge Gläubige radikalisiert und daran mitgewirkt haben, dass der IS neue Kämpfer und Anhänger zugeführt wurden. Auch soll er bei der Organisation von Ausreisen geholfen haben. Wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland fordert die Bundesanwaltschaft zehn Jahre Haft. Die Verteidiger plädieren auf nicht mehr als sechs Jahre Freiheitsentzug. Im Gerichtssaal trägt er einen Anzug, der Bart ist kurz gestutzt. Die Vorwürfe gegen ihn seien ungerechtfertigt, sagt er in seinem letzten Wort.

Boban S. aus Dortmund: Der Chemieingenieur mit langem Haar und wildem Bart soll in einer Dortmunder Wohnung junge Männer aus dem Ruhrgebiet indoktriniert und auf den Dschihad vorbereitet haben. Wie auch Hasan C. hat er sie laut Anklage dann für den „letzten Feinschliff“ vor der Ausreise zum IS nach Hildesheim zu Abu Walaa geschickt. Die Bundesanwaltschaft plädiert auf neuneinhalb Jahre Haft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Sein Anwalt fordert Freispruch. Boban S. sagt: „Ich habe mich nie der Organisation IS verschrieben.“

Mahmoud O. aus Hildesheim: Der 33-Jährige gehörte zum engeren Kreis von Abu Walaa in der Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises. Er soll Ausreisewilligen Kontaktnummern übermittelt haben. Auch seien auf sein Geheiß etwa Handys oder Tablets auf Rechnung gekauft, aber nie bezahlt worden. O. ist bereits aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Die Bundesanwaltschaft hat für ihn viereinhalb Jahre Haft gefordert, ebenfalls wegen Unterstützung einer Terrororganisation im Ausland. Seine Anwälte fordern allenfalls eine Geldstrafe wegen Hehlerei, ansonsten Freispruch.