Braunschweig. . Das Orakel: Die kommissarische TU-Präsidentin Katja Koch befürchtet allerdings Geldmangel in der Forschung im kommenden Jahr.

Seit dem Weggang Anke Kaysser-Pyzallas am 1. Oktober führt Katja Koch die Technische Universität Braunschweig als kommissarische Präsidentin. Im Interview zieht die Professorin der Erziehungswissenschaften eine Bilanz des Wissenschaftsjahres 2020 und über dunkle Wolken am Horizont.

Seit Beginn der Corona-Pandemie kann man der Wissenschaft praktisch live bei der Arbeit zusehen. Man erlebt, wie das Wissen über das Virus wächst, aber auch, welche Unsicherheiten es gibt. Erleben Sie das als positiv, oder befürchten Sie, dass Widersprüche den nötigen „Glauben“ in die Wissenschaft erschüttern?

Ich kann verstehen, dass Leute, die von außen auf die Forschung blicken, manchmal irritiert sind, weil sie sich eindeutige Ansagen erhoffen. Aber so funktioniert das nicht. Wir müssen mit Unsicherheiten leben und umgehen. Die Wissenschaft wird dadurch keineswegs geschwächt. Sie lebt davon, dass Erkenntnisse vorläufig sind. Es gehört schlicht dazu, dass neue Beobachtungen und Methoden auch neue Fragen aufwerfen. Das führt dann zu Nachjustierungen. Immer wieder in Zweifel zu ziehen, ob der aktuelle Wissensstand der letztgültige ist, eben das macht Wissenschaft aus. Das Fundament der Naturwissenschaften steht relativ fest. Aber es gibt auch immer wieder Überraschungen. Dafür steht der Lernprozess bei Sars-Cov2 beispielhaft. Die Virologen konnten immer nur über den aktuellen Stand berichten, und sie haben täglich dazugelernt. Dabei ist beeindruckend, wie schnell und effektiv die Forschenden international zusammengearbeitet haben, etwa an Impfstoffen und Arzneimitteln. Hier hat sich wieder gezeigt, wie gut die Forschung unserer Region weltweit vernetzt ist.

Die Corona-Pandemie hat auch gezeigt, dass Forscher verschiedener Fächer ganz unterschiedlich auf ein und dasselbe Thema blicken. Muss das Publikum noch lernen, dass man sich von hoch spezialisierten Experten – etwa Virologen – keine allumfassenden Antworten erhoffen kann?

Es gibt Personen, die glauben, zu allem etwas sagen zu können. Gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dagegen kennen die Grenzen ihres Fachgebiets. Auf unterschiedliche Perspektiven und Methoden können wir in der Wissenschaft nicht verzichten. Natürlich müssen wir naturwissenschaftlich an die Pandemie herangehen, wir brauchen aber auch die Psychologie, die Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Nur so lässt sich etwa erkennen, welche Folgen der Lockdown für die Entwicklung von Kindern oder für labile Menschen hat. Was epidemiologisch von Vorteil ist, kann psychologisch oder sozial von großem Nachteil sein. All das muss in die Kosten-Nutzen-Abwägungen einfließen.

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Würden Sie sagen, das öffentliche Bild der Wissenschaft ist durch die Pandemie komplexer und zugleich realistischer geworden?

Das ist schwierig zu sagen, weil es an verlässlichen Vergleichsmaßstäben fehlt. Ein Ergebnis der Pandemie ist jedenfalls der weit verbreitete Wunsch, dass die Wissenschaft mehr Gehör findet. Daraus spricht schon Vertrauen. Ich glaube, die Wissenschaft hat in der Corona-Krise sehr deutlich gemacht, was sie leisten kann und warum Spitzenforschung, wie sie an der TU oder am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) betrieben wird, unverzichtbar ist.

Die Wissenschafts-Stars im Corona-Jahr 2020 waren die Virologen . Gleich zwei der bekanntesten Experten sind Ihre TU-Kollegen Melanie Brinkmann und Michael Meyer-Hermann. Wie sehen Sie deren zahlreiche Auftritte in den Medien? Mit Stolz, einem bisschen Neid oder mit Mitgefühl?

Nein, kein Mitgefühl. (lacht) Es ist toll, dass wir mit dem HZI, wo beide forschen, so einen tollen Partner vor Ort haben. Die TU und das HZI profitieren gegenseitig stark von den gemeinsamen Doppelprofessuren. Wenn man so viele Fernsehauftritte absolviert wie die beiden, dann geht das nur, wenn man etwas zu sagen hat und es versteht, die Dinge gut rüberzubringen. Bei ihren Auftritten habe ich ein sehr gutes Gefühl. Zwar fehlt die Zeit, die man in Talkshows verbringt, natürlich für die Forschung. Aber ich habe den Eindruck, dass es den Kollegen gut gelingt, das unter einen Hut zu bringen. Und wenn ich vorm Fernseher sitze und „TU Braunschweig“ lese, macht mich das auch stolz. Das geht mir aber bei allen TU-Kolleginnen und -Kollegen so, wenn ich sie in den Medien erlebe.

Sie sind Erziehungswissenschaftlerin. Wie macht sich die Pandemie in der Forschung in Ihrem Fachbereich bemerkbar?

Schon vor Corona haben wir begonnen, uns mit digitalen Lernformaten auseinanderzusetzen. Durch die Pandemie haben wir das noch einmal forciert. Wichtig ist insbesondere die Frage: Wie versetzen wir die Lehrkräfte, die wir ausbilden, in die Lage, digitalen Unterricht durchzuführen? Vor Corona konnten wir nicht so viele Studierende für dieses Thema begeistern. Heute stellt niemand mehr den Nutzen von Blended-Learning-Einheiten, die digitales und analoges Lernen kombinieren, oder von digitalen Lernstationen in der Grundschule infrage. Die Einstellungen zum digitalen Lehren und Lernen haben sich massiv geändert.

Die Pandemie hat der Digitalisierung einen gewaltigen Schub verpasst. Unser Leser Christian Hammer interessiert sich für Künstliche Intelligenz (KI). Er fragt: Auf welchen Gebieten darf man sich weitere Erleichterungen durch diese Technologie erhoffen?

Die Künstliche Intelligenz ist ein sehr weites, spannendes Forschungsfeld. An der TU arbeiten viele Kolleginnen und an Fragen des autonomen Fahrens. Wir werden es zukünftig mit Stadt-Umgebungen zu tun haben, deren Elemente sich untereinander vernetzen, etwa damit der Straßenverkehr in komplexen Fahrsituationen besser fließt. Hier bieten sich dank KI viele Chancen. Eine Hoffnung aus meinem Fachbereich, den Erziehungswissenschaften, ist, dass KI-Technologie vor allem in Routine-Lernsituationen Entlastung schafft. Konkret heißt das etwa: Das Üben und Wiederholen von Vokabeln könnten wir an eine KI auslagern, während die Lehrenden sich noch stärker um das Vermitteln von Lehrinhalten kümmert. Besonders interessant wird KI übrigens, wenn sie mit der Quantentechnologie zusammentrifft. Meine TU-Kollegen der Metrologie, die in diesem Bereich unterwegs sind, arbeiten an der Entwicklung exakter und leistungsfähiger Quantencomputer. Mit diesen Voraussetzungen sind KI-Anwendungen denkbar, die auch komplexeste Situationen meistern und die richtigen Entscheidungen treffen.

Wie ist der Stand der Bauarbeiten an der TU? Wird das Audimax zum Sommersemester 2021 wieder an den Start gehen?

Ja, auf jeden Fall. Die Fortschritte sind gut sichtbar. Ich verfolge sie täglich von meinem Präsidialbüro aus. Wir überlegen bereits, wie wir die Wiedereröffnung dieses einmaligen historischen Baus unter Corona-Bedingungen würdig feiern können. Direkt nebenan, am Okerufer, entsteht das neue Studierendenhaus. Und das Zentrum für Brandschutz ZeBra wird an der Beethovenstraße gebaut. Den Pavillon auf dem Campus Nord, den die Studierenden selbst gebaut haben, konnten wir in diesem Jahr einweihen.

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Die Pandemie hat das Studieren massiv verändert. Droht, wie manche befürchten, eine verlorene Generation Corona?

Das Wort „verloren“ finde ich an dieser Stelle übertrieben. Natürlich hat sich das Studieren verändert – ob zum Besseren oder zum Schlechteren, ist momentan noch schwer zu sagen. Fest steht aber: Die jetzige Studierendengeneration macht andere Erfahrungen. Vor allem für die Studienanfänger hängt vieles davon ab, wann es uns gelingt, die Lehre wieder in die Präsenzphase zu überführen. Denn natürlich geht in den digitalen Lernformaten vieles verloren, was ein Studium normalerweise ausmacht: Man tritt in eine neue Lebensphase ein, die offen ist für Veränderung. Man beginnt zusammen mit anderen Personen, die man noch nicht kennt, ein Fach zu studieren, das man sich ausgesucht hat, weil es einen packt. Man lebt sich ein in ein neues Umfeld. Viele dieser Erfahrungen verschieben sich für die jetzigen Studierenden nach hinten.

Wie erleben die Studierenden selbst die Situation?

Sie sagen, dass so ein digitales Semester deutlich anstrengender ist. Zudem begünstigt es einen bestimmten Typ von Studierenden. Ein wenig Sorge mache ich mir deshalb um jene, die das selbstorganisierte Lernen noch nicht so gut beherrschen. Gerade für sie sind die ersten Semester besonders wichtig, weil hier die Grundlagen vermittelt werden. Diese Gruppe könnte tatsächlich Schwierigkeiten bekommen. Ob das zu vielen Studienabbrüchen führt, wird sich zeigen.

Und wie erleben Sie als Professorin die digitale Lehre?

Ich halte gerade eine digitale Erstsemester-Vorlesung für 400 bis 500 Leute. Über die Messenger-Funktion erhalte ich Fragen, die mir die Studierenden in einer realen Vorlesung nie gestellt hätten. Neben meiner Vorlesung her läuft sozusagen der Chat-Kanal, in der die Teilnehmer nachfragen, kommentieren und diskutieren. Zuerst war das etwas irritierend für mich, aber ich finde es eine sehr gute Entwicklung. Allgemein gilt: Manche Formate funktionieren, manche auch nicht. Wir sind gerade dabei, das auszuloten. Wir versuchen etwa herauszufinden, wie Erklärvideos beschaffen sein müssen, damit Studierende sie interessant finden. Ein TU-Professor hat unserer Redaktion geschrieben: „Mich bewegt das neuerliche Corona-Semester. Digitalisierung ist ein ziemlich hilfloses Schlagwort geworden. Ich mache mir Gedanken um die Anfänger und bildungsfernen Herkünfte. Auf die Idee, aus der Not eine Tugend zu machen und Geld für Manpower und kleinere Lerngruppen in die Hand zu nehmen, kommt niemand. Geht ja online.“

Wie begegnen Sie dieser Kritik?

Ich kann das verstehen. Präsenzlehre ist wichtig. Aber man muss auch sagen: Sie ist nicht per se besser. Es kommt auf die Qualität an – digital wie analog. In Niedersachsen ist die Grundfinanzierung der Universitäten relativ niedrig. Dieser Grundstock reicht nicht aus, um eine gute Lehre zu sichern. Manche Seminare, die wir anbieten, sind derart überfüllt, dass es jenseits von Gut und Böse ist. Aber mehr Personen einzustellen, ist einfacher gesagt als getan. Die hierfür nötigen Leute stehen schlicht nicht zur Verfügung. In manchen Fächern haben wir große Probleme, noch Menschen zu gewinnen, die Interesse an einer wissenschaftlichen Karriere haben. Die Option, mal eben tausend Lehrkräfte für besondere Aufgaben einzustellen, gab es Mitte März nicht. Wirklich zukunftsweisend wäre aus meiner Sicht eine Kombination zeitlich flexibler digitaler Selbstlern-Anteile und guter Präsenz-Einheiten. Die Lehrenden übernehmen dabei zunehmend die Rolle von Moderatoren und Lernbegleitern.

Welche Wissenschaftsthemen werden im kommenden Jahr eine besondere Rolle spielen?

Natürlich wird die Forschung in unserer Region an den wichtigen Zukunftsthemen – der Batterieforschung, der Infektionsforschung, dem autonomen Fahren, dem nachhaltigen Fliegen und der Quantentechnologie – dranbleiben. Aber ich fürchte, die Forschungsinhalte werden im kommenden Jahr davon an den Rand gedrängt, dass wir weniger Geld zur Verfügung haben. Die Haushaltsplanungen Niedersachsens sehen Kürzungen vor, die uns ins Mark treffen. Wenn das vom Land geplante Szenario eintrifft, dann müssen wir in den nächsten vier bis fünf Jahren 150 Stellen dauerhaft abbauen. Das sind Dimensionen, die unsere Zukunft aufs Spiel setzen. Gerade viele junge Kolleginnen und Kollegen, die innovative Forschung an den Schnittstellen der Disziplinen treiben, werden wir so nicht halten können. Die Landeshochschulkonferenz und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen haben sich deshalb auch in einem offenen Brief an die Landesregierung gewandt. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass auf die Corona-Krise eine Wissenschafts-Krise folgt.

Haben Sie Wunschkandidaten für einen der Wissenschaftsnobelpreise 2021?

Ich würde den Preis Forschenden wünschen, die Technologien zur Energiespeicherung voranbringen. Gut vorstellen kann ich mir auch, dass jemand aus dem Bereich der Quantentechnologie ausgezeichnet wird. Manche mathematischen Formeln, die schon vor Längerem entwickelt worden sind, ermöglichen in Verbindung mit dem Quantencomputer ungeahnte Innovationen.

Wie ist der Stand der Suche nach einem neuen TU-Präsidenten oder einer neuen Präsidentin?

Dazu kann ich nicht viel sagen. Prof. Lothar Hagebölling, der Vorsitzende unseres Hochschulrats und der Findungskommission kümmert sich darum mit der ihm eigenen Souveränität. Ich habe mitbekommen, dass es nicht an Bewerbern mangelt. Aber wer es wird, und wann, ist noch offen.