Braunschweig. Dr. Mark Benecke, der wohl bekannteste Kriminalbiologe Deutschlands, gibt Einblicke in seine Arbeit. Er berichtet, welche Erfahrungen er gemacht hat.

Muss man für die Arbeit mit Leichen abgehärtet sein? Hat man dadurch ein besonderes Verhältnis zu Leben und Tod? Über Fragen wie diese – und über Erfahrungen, die er mit 1600 seltsamen Fällen gemacht hat – spricht der bekannte Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke im Gespräch mit unserem Redakteur Tobias Feuerhahn. Unter anderem untersuchte Benecke die Maden, die an der Leiche der Ehefrau im Fall „Pastor Geyer” in unserer Region gefunden wurden. Dabei gibt er auch Einblicke in seine Arbeit als Insektenkundler.

Mark, Du bist Kriminalbiologe, Forensiker und auch Entomologe – sprich Insektenforscher. Was haben Insekten mit der Arbeit an Kriminalfällen zu tun?

Ich schaue zum Beispiel, ob Gifte in Insekten sind – auch wenn die Leiche schon total verwest ist wie bei den typischen Autobahn-Leichen. Das sind Leichen, die in den Böschungen und Wäldchen der Autobahn erst spät gefunden werden, weil dort normalerweise kein Mensch entlanggeht. Leichen von Suizidenten beispielsweise. Ein klassisches Beispiel: Neben der Leiche liegen eine Flasche Schnaps und eine leere Tablettenpackung. Die Frage ist nur, ob die leere Tablettenpackung und Schnapsflasche neben den toten Menschen gelegt wurden – und er sich gar nicht suizidiert hat. Das bekommt man über die Leichen-Insekten heraus, weil da manchmal bestimmte Stoffe aus den Tabletten angereichert sind. Oder man findet heraus, wie lange jemand von Insekten besiedelt wurde. Wenn wir dann zum Beispiel noch wissen – durch eine Kameraaufzeichnung – wann die Person zuletzt gesehen wurde, grenzen wir nur noch ein: Wie lange nach dieser letzten Sichtung ist die Leiche von Insekten besiedelt worden? Das ist meistens – im Sommer sogar oft – in etwa der Todeszeitpunkt.

Wie gehst Du dann mit den Maden und anderen Tieren vor?

Also der Stand heute ist: Man muss die Tiere züchten, und zwar die verschiedenen Arten. Es gibt karierte, gestreifte, blau-glänzende, grün-glänzende Fliegen. Die Tiere haben alle verschiedene Wachstumsbedingungen und -geschwindigkeiten als Larven. Das ist teilweise unglaublich schwierig. Und dann schaut man, welche Tiere auf der Leiche sind. Man misst die Länge und erhält damit das Alter. Das ist aber auch schwierig, weil die Tiere wieder schrumpfen, wenn sie älter werden. Man muss also genau schauen: Befinden sich die Tiere im Wachstums- oder im Schrumpfstadium? Danach gleicht man das mit Datenbanken ab. Und wenn du Glück hast, findest du heraus, wie lange die Leiche besiedelt wurde.

Wenn man mit Leichen zu tun hat, muss man dann hart im Nehmen sein? Oder gehört da ein gesundes Verhältnis zu Leben und Tod dazu?

Du darfst dich nicht um den Umgebungszusammenhang kümmern. Für mich als Biologe ist das klar. Der Tod ist dabei ein völlig uninteressantes Thema. Das interessante Thema ist Leben. Der Tod dauert eine Sekunde. Du hast aber sehr viele Sekunden in deinem Leben Außerdem wird beim Tod auch nur das Material wieder zur Verfügung gestellt. Daraus entsteht neues Leben. Das ist also, wenn überhaupt, etwas Positives. Ich kann jetzt nicht sagen, dass man da besonders hart im Nehmen sein muss. Außerdem komme ich noch aus einer Zeit, in der man den Fall immer übernommen hat. Ob du wolltest oder nicht. Da hieß es: Zugunglück? Machst du. Kindesmissbrauch? Machst du. Elfjähriges Mädchen hat sich erhängt? Das machst du. Ich denke, du musst einfach wissen, was du kannst und was du nicht kannst. Denn Abhärtung geht nicht. Abhärtung ist experimentell erprobt und das Ergebnis ist: Sie funktioniert nicht. Das kann ich auch von meinen Studierenden sagen.

Wer bestellt Dich überhaupt? Ist das immer die Polizei oder die Staatsanwaltschaft?

Nein, das ist eine Besonderheit. Also der Begriff „Bestellung” steht bei mir sogar im Berufstitel: Ich bin öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger, auch der einzige in Deutschland für meinen Fachbereich. Das ist ein Rechtsbegriff. Ich unterliege sehr, sehr strengen Regeln. Das sind die strengsten Regeln, die es für irgendeinen Beruf in Deutschland gibt. Es gibt keinen Beruf, der härtere Folgen für leichteste Fehler vorsieht. Ich hafte mit allem, was ich besitze. Unbegrenzt. Das gibt es in keinem anderen Beruf, also auch nicht, wenn man auf der Intensivstation arbeitet oder im Atomkraftwerk. Und da kommt der Begriff Bestellung her. Bei der Auftragserteilung musste ich schwören, Aufträge von jedem Menschen anzunehmen. Auch von Leuten, die einen auf dicke Hose machen. Oder die nie Geld haben – und nie wieder haben werden. Aber das Schöne an dem Beruf ist, dass wir zu jeder und jedem – egal, wer es ist – sagen können: Okay, passen Sie auf, es ist alles egal, ob ihr Sohn ein guter oder ein böser Junge war und wie viele Drogen er genommen hat oder nicht. Können wir bitte über die Spuren reden? Weil: Wir sind Spurenkundler. Jede und jeder versteht dann: Der möchte etwas unter das Mikroskop legen.

Gibt es bei 1600 Fällen, die Du bearbeitet hast, einen, der besonders absurd war?

Nein, jeder Fall ist extrem spannend, wenn du genau hinschaust. Es hängt nur davon ab, ob du genau hinschaust oder nicht. Ich meine, es kann gar nicht sein, dass ein Fall vollständig verstanden ist. Sobald Menschen mitspielen, wird gelogen und erfunden. Wenn ein Mensch dir seine angeblichen Beobachtungen schildert, kommt zu 90 Prozent Unsinn heraus. Dazu ein Beispiel: Früher hat der ADAC Tests mit nachgestellten harmlosen Verkehrsunfällen gemacht. Danach wurden die Leute ringsherum befragt: Wie schnell sind die Autos gefahren? Welche Farbe hatten die? Welcher Autotyp war das? Und das Ergebnis war, dass die Zeugen nichts wussten. Nichts. Die konnten noch nicht einmal die Farbe der Autos richtig angeben. Das meine ich mit den 90 Prozent Unsinn in Bezug auf Tatsachen, die in Gefühle eingeordnet werden. Was ich nicht meine, sind deine Gefühle und Meinungen. Die sind natürlich echt. Die stehen aber nicht in Zusammenhang mit den Tatsachen. Diese Brücke wird nicht geschlagen, und deswegen brauchst du Spurenkunde. Wenn du nur Zeugen glauben würdest, dann wäre wahrscheinlich die halbe Erdbevölkerung im Knast.

Die ganze Folge unseres Crime-Podcasts "Tatort Niedersachsen" ist hier zu hören: Insekten und Leichen - im Gespräch mit Mark Benecke , bei Spotify, Apple Podcast und Co.