Braunschweig. Orakel 2021: Ifftner fordert mehr Wertschätzung für Mitarbeiter in Kliniken, Altenheimen und sozialen Einrichtungen. Geld allein reiche nicht.

Sätze wie „Corona hat die soziale Spaltung des Landes vergrößert“ oder „die Pandemie wirkt wie ein Brennglas“ sind im Jahr 2020 zum Allgemeingut geworden. Christine Ifftner führt seit gut einem Jahr als Geschäftsführerin den Verein Köki in Braunschweig, der sich die Förderung körperbehinderter Kinder zur Aufgabe gemacht hat. Zuvor war sie in der Personalleitung großer Wirtschaftsunternehmen tätig. Sie hat daher Einblick in viele Seiten der Berufswelt. Erstmals blickt die gebürtige Bad Harzburgerin als Orakel für unsere Zeitung in die Zukunft. Welche sozialen Fragen werden sich 2021 stellen?

Sie stehen als Geschäftsführerin einer Einrichtung vor, die ohne den unmittelbaren direkten Kontakt mit Menschen eigentlich nicht funktioniert. Was sind die Herausforderung in der Corona-Krise?

Christine Ifftner, Köki-Geschäftsführerin, blickte erstmals als Orakel für soziale Fragen in die Zukunft
Christine Ifftner, Köki-Geschäftsführerin, blickte erstmals als Orakel für soziale Fragen in die Zukunft

Aktuell ist die Risikoabwägung die große Herausforderung vor der wir stehen. Wir fragen uns täglich: Haben wir alles getan, um Infektionen innerhalb der Einrichtung zu vermeiden? Haben wir also unsere Abläufe und Maßnahmen an die Vorgaben der Politik bestmöglich angepasst und für alle Szenarien entsprechende Prozesse transparent gestaltet? Das geht betrifft alle im Haus: Patienten, Klienten und Mitarbeiter.

Was heißt das für Sie als Geschäftsführerin?

Man muss heute Entscheidungen treffen, ohne zu wissen, ob es die Richtigen sind. Aber Entscheidungen sind deshalb so wichtig, um nach außen für alle Beteiligten Sicherheit und Klarheit zu vermitteln. Ein wichtiges Ziel bleibt die Erreichbarkeit für die Patienten und die Familien, für die wir oftmals eine wichtige Anlaufstelle sind.

Welche Veränderungen haben Sie während der Pandemie bei den Menschen, die Sie versorgen, festgestellt?

Im ersten Shutdown konnten wir nicht mobil arbeiten und die therapeutischen Behandlungen waren nur sehr eingeschränkt möglich. Heute sind alle froh, dass es weitergehen konnte. Dennoch nimmt die Verunsicherung gerade mit weiter hohen Infektionszahlen bei allen wieder zu. Dass die Menschen in dieser Zeit nicht alleine sind, und die Betreuung weitergeht, bleibt unser oberstes Ziel. Wir haben gemerkt, dass die Unterbrechung unserer Arbeit im Frühjahr den Kindern und Patienten, die wir betreuen, nicht gutgetan hat. Denn bei der Frühförderung zählt jeder Tag.

Sie wirken dennoch optimistisch. Keine Zweifel daran, dass 2021 wieder mehr Rückschläge folgen?

Naja, den Rückschlag durch den erneuten Lockdown erleben wir ja alle. Die Erschöpfung und Corona-Müdigkeit wird größer. Dennoch sollte man Optimismus ausstrahlen. Allerdings bereiten uns die eingeschränkte Betreuung in den Kindergärten sowie der reduzierte Präsenzunterricht an den Schulen große Sorgen.

Hier geht's zur Podcast-Folge: „Orakel 2021“-Podcast: Über Wertschätzung und Ausdauer

Hoffnung macht auch der gefundene Impfstoff. Kann der schnell zu den Menschen gebracht werden, könnte das Leben sich schneller normalisieren. Wer sollte zuerst geimpft werden? Und wollen Sie und Ihre Kollegen sich impfen lassen?

Unsere Mitarbeiter sind an einem Tag manchmal bei fünf oder sechs Patienten oder Familien. Ihre Sorge ist weniger, dass Sie sich selber anstecken, sondern dass sie das Virus in die Familien tragen. Deshalb sind viele bereit, sich impfen zu lassen.

Haben Sie die Hoffnung, dass diese Pandemie die Wertschätzung gegenüber pflegerischen und sozialen Berufen erhöht? Statt Applaus auch mal mehr Geld im Portemonnaie…

Die Frage ist immer: Erreicht ein solches Mittel alle Menschen, die hier arbeiten? In dieser Debatte sprechen wir oft über Beschäftigte, die in tarifgebundenen Unternehmen tätig sind. Das betrifft aber nur ein Drittel aller Angestellten in diesem Berufsfeld. Hier müsste die Diskussion über die Vergütung breiter geführt werden. Die allermeisten Arbeitgeber wünschen sich ein faires und leistungsgerechtes Entgelt für ihre Mitarbeiter. Aber eine Wertschätzung nur über den finanziellen Ansatz, greift aus meiner Sicht zu kurz.

Was muss sich noch ändern?

Die jungen Menschen, die anfangen, in diesen Berufen zu arbeiten, wünschen sich neben finanzieller Sicherheit realistische Arbeitszeiten und einen fairen Ausgleich. Sie müssen das Gefühl haben, auch ein Leben neben dem Beruf zu haben. Stichwort: Work-Life-Balance. Der hohe persönliche Einsatz in diesen Berufen führt nicht selten zu großer Erschöpfung. Die Phasen der Erholung müssen wir noch stärker in den Blick nehmen und verbindlicher machen. Natürlich erlernt man diese Berufe auch heute noch aus einer inneren Haltung heraus, weil man etwas Gutes tun will, weil das Leben einem so sinnvoller erscheint. Aber eine 60-Stunden-Woche, wie es sie derzeit auch aufgrund des Fachkräftemangels in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen gibt, verringert diese Motivation natürlich.

Haben Sie Hoffnung, dass diese Berufe der Fürsorge durch Corona an Bedeutung gewinnen?

Dann, wenn man den Mitarbeitern als Arbeitgeber zusätzliche Angebote machen kann, ja. Flexible, aber auch verlässliche Arbeitszeiten, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Das sind Wünsche, die neben dem starken Bedürfnis nach Transparenz und Mitgestaltung, immer wichtiger werden. Die Mitarbeiter sind ja schließlich die Experten ihres Arbeitsbereiches. Hier muss Deutschland noch viel fortschrittlicher werden.

Inklusion in Deutschland. Ein Feld, das Sie täglich im Blick haben. Sind wir auf einem guten Weg oder wird die Diskussion nicht immer öfter sehr egoistisch geführt? Ich denke da an Eltern, die ihre nicht behinderten Kinder ausgebremst sehen, wenn diese in inklusiven Schulklassen sitzen…

Ein schwieriges Thema. Ich sehe täglich, dass Inklusion funktioniert. Es bedarf aber immer Treiber in der Gesellschaft und breiter Schultern. Inklusive Klassen sind auch eine Chance für Kinder, die nicht beeinträchtigt sind. Steter Tropfen höhlt da den Stein. Es braucht also immer positive Beispiele, die wir dann auch immer wieder einmal öffentlich benennen sollten. Wir dürfen nicht immer nur die Schwierigkeiten betonen. Wir müssen aktuell aufpassen, dass wir in Zeiten von Corona Menschen, die körper- und oder geistig beeinträchtigt sind, nur weil wir sie als besonders schützenswert betrachten, nicht vom Leben ausschließen. Für Angehörige ist das nur sehr schwer zu ertragen, wenn sie dieses Gefühl gewinnen. Was womöglich gut gemeint ist, kann dann doch der falsche Ansatz sein.

Der Rückzug mehr ins Private passiert automatisch, wenn sich Arbeit im Homeoffice abspielt. Wird das die Zukunft der Arbeit sein? Sehen Sie das eher als Chance oder Risiko?

Sowohl als auch. Das mobile Arbeiten wird immer wichtiger, auch im Sozialdienst. Durch Corona musste ein Umdenken erfolgen und die Frage, wie effizient ist das Arbeiten von Zuhause aus, stellte sich nicht. Das war übrigens früher immer der größte Diskussionspunkt für die, die in Unternehmen für das Personalwesen zuständig waren. Wenn Homeoffice klappen und die Menschen nicht überfordern soll, müssen Strukturen dafür geschaffen werden. Der Grad an Digitalisierung muss höher werden und schon die Implementierung des Digitalen in Bildungseinrichtungen wie Schulen ist von Vorteil, wenn der Wechsel in die Arbeitswelt ansteht. Eines sollte man aber auch nicht vergessen: der soziale Austausch zwischen Kollegen und Kolleginnen ist elementar, auch für die Weiterentwicklung eines Unternehmens.

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Muss der Gesetzgeber hier Leitplanken einziehen oder sollte Homeoffice eine freiwillige Selbstverpflichtung des Arbeitnehmers bleiben?

Ich glaube die Akzeptanz schwindet, wenn etwas von außen übergestülpt wird. Dafür ist auch der Arbeitsalltag der Menschen zu unterschiedlich. Das Tempo, wie Homeoffice im Einzelnen umgesetzt wird, sollte meiner Meinung nach den Betrieben überlassen bleiben.

Noch immer verdienen Frauen oftmals weniger als ihre männlichen Kollegen. Wird 2021 hier mehr Gerechtigkeit herstellen?

Ich bin da eher pessimistisch. Die Bundesregierung will diese Lohnlücke zwischen Frauen und Männern bis 2030 auf bis zu zehn Prozent schließen. Das ist ein langer Weg. Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Erwerbsbiografien und der Wahl von Berufsfeldern. Dies führt häufig zu unterschiedlichen Karriereverläufen und Verdienstunterschieden. In Berufszweigen, die wie bei uns von Frauen dominiert sind, stellt sich dann doch eher die Frage: Ist mein Lohn angemessen für die Arbeit, die ich leiste. Das ist unabhängig davon, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Welche Berufsgruppe aus meiner Sicht besondere Härten erfährt, sind Frauen, die alleinerziehend und alleinverdienend im Haushalt sind. Hier hat die Regierung nachgebessert, aber da ist noch Luft nach oben.

Dauert Ihnen dieser Prozess zu lange?

Das Thema beschäftigt schon Generationen. Ich kann nicht beurteilen, ob der Prozess zu lange dauert, aber wir müssen dran bleiben und dürfen ihn auch nicht wieder aus dem Auge verlieren, nur weil Corona jetzt viele Gerechtigkeitslücken offenlegt.

Was muss politisch passieren, dass 2021 ein gutes Jahr für die Familie wird?

Dafür müssen sich Rahmenbedingungen weiter verbessern. Es muss für junge Menschen wieder erstrebenswerter werden, eine Familie zu gründen. Dazu gehören finanzielle Entlastungen, genauso wie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei beiden Elternteilen. Auch der Ausbau und die Verbesserung des Bildungswesens und ein einfacher Zugang zu den Leistungen und Informationen, sind entscheidend.

Sie haben auch mit jungen Menschen zu tun, die im Jahr 2019 für einen besseren Klimaschutz auf die Straßen gingen. Wird das Thema durch die Pandemie wieder in eine Nische gedrängt?

Ich glaube, dass das Thema weiter relevant bleibt, nicht nur die Grünen setzen sich in ihrem neuen Parteiprogramm dafür ein. Wenn es wieder die Möglichkeit geben wird, in der Öffentlichkeit zusammenzukommen, werden auch die jungen Menschen wieder da sein. Ihr Selbstbewusstsein gerade in dieser Frage ist bewundernswert und viel größer als noch in meiner Generation. Ich habe den Eindruck, vielen Jugendlichen ist es zu langsam gegangen, denn in ihrer Welt herrscht Tempo, nicht zuletzt durch den Fortschritt bei der Digitalisierung. Ich sehe hier aber keinen grundsätzlichen Generationenkonflikt. Auch viele Ältere haben begriffen, dass mit Blick auf den Klimawandel Nichtstun keine Alternative ist.

Dann doch diese Frage zum Schluss: Wird Corona die soziale Spaltung vergrößern?

Corona zeigt uns auf jeden Fall deutlich die Spalten auf. Die Pandemie hat die Verunsicherung vergrößert. Wir sind es nicht mehr gewohnt, Dinge auszuhalten, von denen wir nicht wissen, wann und wie sie enden. Oft werden die negativen Beispiele hervorgehoben, aber es gibt so viel Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Die große Mehrheit der Bevölkerung hält sich diszipliniert an die Auflagen und Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Wir spüren doch vielfach selber, was es mit uns macht, wie müde wir manchmal sind, aber wir gehen am nächsten Morgen wieder mit unserer Maske los und versuchen, unserem Umfeld positiv zu begegnen. Zuletzt hat mir eine Kollegin einen kleinen Blumenstrauß aus ihrem Garten mitgebracht. Man dürfe nicht vergessen, sich selber und sich gegenseitig etwas Gutes zu tun, sagte sie. Sie hat Recht. Solidarität funktioniert halt auch im ganz Kleinen und ist trotzdem groß.