Braunschweig. Der Braunschweiger Mediziner Schneider-Rathert warnt vor überzogenen Erwartungen an die Impfungen. Für Pflegeheime seien sie aber ein Segen.

In Niedersachsen läuft der Aufbau von Corona-Impfzentren auf Hochtouren. Nicht nur die Politik, auch die Wirtschaft und große Teile der Bevölkerung setzen große Hoffnungen darauf, dass mit zunehmenden Impfungen auch eine schrittweise Rückkehr zur Normalität möglich wird. Doch Allgemeinmediziner warnen vor überzogenen Erwartungen und vorschnellem Aktionismus: „Wir wissen noch wenig über die Wirkung der Corona-Impfstoffe, die vor der Zulassung stehen“, sagt Dr. Wolfgang Schneider-Rathert. Beispielsweise könne man derzeit noch nichts über die Dauer der Schutzwirkung oder mittelfristige Nebenwirkungen sagen.

Der Braunschweiger ist Sprecher der Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und setzt sich als solcher intensiv unter anderem mit Aspekten wie Wirksamkeit, Verträglichkeit und möglichen Nebenwirkungen von Impfstoffen auseinander. Vor jeder Impfentscheidung müssen potenzieller Nutzen und Risiken bewertet werden, sagt er. Sinnvoll sei es auf jeden Fall, Menschen gegen das Coronavirus zu impfen, die älter als 80 Jahre alt sind. Während bei den über 80 Jährigen aufgrund des hohen Sterblichkeitsrisikos von 15 bis 20 Prozent der Nutzen nach heutiger Kenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall das Risiko weit überwiege, sei dies zum Beispiel für Menschen unter 50 Jahren derzeit noch nicht sicher zu sagen.

Für die Corona-Impfstoffe liegt eine vergleichsweise ordentliche Datenbasis vor

Dass Corona-Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt wurden und eine für diesen kurzen Zeitraum vergleichsweise ordentliche Datenbasis vorliegt, begeistert den Allgemeinmediziner, der eine Praxis in Braunschweig-Querum betreibt. Allerdings müsse man ehrlich bleiben, es seien auch noch viele Fragen offen – etwa wie sich der Impfstoff bei bestimmten Krankheitsbildern (Immunsupression zum Beispiel bei Multipler Sklerose, Rheuma oder nach Organtransplantationen) auswirkt. Unklar sei zudem, ob er Folgen für die Fruchtbarkeit hat. Auch zu Schwangeren lägen keine ausreichenden Daten vor.

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Insgesamt gelten die aussichtsreichsten Impfstoff-Kandidaten als gut verträglich. Allerdings sei im Vergleich zur jährlichen Grippeimpfung deutlich häufiger mit einer den Alltag vorübergehend einschränkenden Nebenwirkung wie Kopfschmerz, Fieber, Müdigkeit, Gelenk-und Muskelschmerzen zu rechnen, gibt Schneider-Rathert zu bedenken. Diese seien aber soweit bekannt vorübergehend und beträfen vermutlich nur zehn Prozent der Geimpften.

Trotz Impfungen bleiben die Hygieneregeln weiter wichtig

Außerdem könne noch nicht sicher gesagt werden, ob die neuen Corona-Impfstoffe die Übertragung des Virus auf andere Menschen verhindern. Theoretisch ist denkbar, dass eine Impfung zwar den Ausbruch der Krankheit beim Geimpften verhindert, dieser aber weiterhin infektiöse Viren ausstößt. Auch Geimpfte sollten deshalb bis auf Weiteres die Hygiene-Regeln einhalten – also Abstand halten, Alttagsmaske tragen, Hygiene beachten – um nicht unbemerkt andere zu gefährden.

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert ist Sprecher der Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin.
Dr. Wolfgang Schneider-Rathert ist Sprecher der Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. © Foto: Privat

Etwa zwölf Jahre dauert es normalerweise, bis ein Impfstoff gefunden ist. Nur ungefähr jede zwanzigste erforschte Substanz erweist sich als wirksam. Auf der Suche nach einem Corona-Impfstoff durchlaufen nach Daten der Weltgesundheitsorganisation von Mitte November gerade 48 Kandidaten klinische Tests, 164 weitere sind in einem früheren Stadium. Aktuell gibt es einige aussichtsreiche Impfstoff-Projekte in der letzten Testphase und erste Impfstoff-Kandidaten, für die bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA ein Antrag auf Zulassung gestellt wurde. Darunter ist der Impfstoff der Kooperation des deutschen Unternehmens BionTech mit dem Pfizer-Konzern. Es ist gut möglich, dass nach und nach mehrere Impfstoffe zugelassen werden, heißt es bei der Bundesregierung.

Es gibt strenge Kriterien für die Zulassung

In Deutschland wird ein Impfstoff nur dann zugelassen, wenn er alle drei Phasen eines klinischen Studienprogramms erfolgreich bestanden hat. In der ersten Phase wird der Impfstoff an wenigen Freiwilligen getestet, um vor allem die richtige Dosis zu finden. In der zweiten bekommt ihn eine größere Gruppe verabreicht. Dadurch wird das Ergebnis verfeinert und vor allem auch auf Nebenwirkungen geachtet. In der dritten Phase erhalten mehrere tausend Personen den Impfstoff, um die bisherigen Ergebnisse in der Breite zu überprüfen. Normalerweise laufen diese Phasen nacheinander ab, was mehrere Jahre dauern kann. Bei der Entwicklung des Corona-Impfstoffs werden diese jedoch teilweise auch parallel durchgeführt – das hat das Verfahren extrem beschleunigt.

Ist der Impfstoff auf dem Markt zugelassen, wird dessen Anwendung weiter eng überwacht und bewertet, um auch sehr seltene Nebenwirkungen zu erfassen. Darauf wies auch der Immunologie-Professor Carsten Watzl von der Technischen Universität Dortmund kürzlich in einem Interview mit dem „Heute Journal“ hin. „Da wird jetzt nicht am Menschen experimentiert, sondern sichergestellt, dass ein Impfstoff wirklich sicher ist“, sagte Watzl. Wenn in der Folge von Impfungen Krankheiten auftreten, müsse man genau untersuchen, ob dies tatsächlich im Zusammenhang mit dem Impfstoff stehe.

Schneider-Rathert verweist auf Erfahrungen, die 2009 bei der letzten Pandemie mit Impfungen gegen die Schweinegrippe gemacht wurden. Dabei erkrankten nach Beginn der Impfkampagne mit dem Mittel Pandemrix etliche Menschen an Narkolepsie, einer unheilbaren Schlafkrankheit. Das Problem wurde erst Monate nach Ende der Impfkampagnen bekannt. Unter den etwa 30 Millionen geimpften Europäern kam es zu rund 1300 Fällen von Narkolepsie, die mit dem Mittel in Verbindung stehen sollen. Betroffen sind vor allem Kinder und Jugendliche.

Seltene Nebenwirkungen sind noch unbekannt

„Bei den Corona-Impfstoffen, die nun vor der Zulassung stehen, ist die Datenlage wesentlich breiter als es damals bei Pandemrix mit 5000 Probanden zum Zeitpunkt der Zulassung der Fall war“, sagt Schneider-Rathert. Damals sei diese seltene Nebenwirkung allerdings erst zwölf Monate nach der Zulassung erkannt worden. Aufgrund des aktuellen Entwicklungserfolges überblicke man jetzt erst einen Zeitraum von zwei Monaten nach der zweiten Corona-Impfung, dafür aber schon mit rund 40.000 Menschen je Impfstoffstudie der Phase drei.

„Heimbewohner sollten zügig geimpft werden“

Der Allgemeinmediziner plädiert deshalb dafür, aufgrund der hohen Infektionssterblichkeit bei über 80-Jährigen vor allem diese Altersgruppe als erstes zu impfen. „Für Alten- und Pflegeheime sind Corona-Impfungen daher ein Segen“, ist er überzeugt. Gerade Pflegebedürftige hätten keine Möglichkeit, Kontakte im Rahmen der Pflege zu reduzieren und seien deshalb einem besonders hohem Infektionsrisiko ausgesetzt. Durch die zügige Impfung des ein Prozent der Bevölkerung, die in Pflegeheimen lebe, könne nach Berechnungen bereits jetzt die aktuell noch mal gestiegene Sterblichkeit halbiert werden.

Wo die Impfstoffzentren noch nicht startklar seien, sei die Impfung effizient und zeitnah nur mit Hilfe von Hausarztpraxen zu leisten, ist Schneider-Rathert überzeugt. „Wir kennen unsere Patienten und können mit ihnen am besten Nutzen und Risiko einer Impfung abwägen.“ Aber selbst wenn die Impfzentren schon startklar wären, sei die Impfberatung dort nicht so einfach durchführbar. Letztlich seien es doch dieselben Hausärzte und Ärztinnen, die statt ihre eigenen Patientinnen zu impfen, erst noch lange zu den Zentren fahren müssten.

Hausärzte kritisieren das Konzept der Impfzentren

Warum wird der Impfstoff überhaupt vor allem in Impfzentren verabreicht? Das Bundesgesundheitsministerium verweist darauf, dass etwa der von Biontech und Pfizer entwickelte Impfstoff BNT162b2 unter bestimmten Bedingungen, immer unter Temperaturen von bis zu Minus 80 Grad gehalten werden muss. Doch nach Ansicht von Schneider-Rathert könnten sich die Zentren auf die Impfstoffverteilung an wohnortnahe Hausarztpraxen konzentrieren.

Nach einem Entwurf für eine Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums kommt auf die niedergelassenen Ärzte ohnehin eine hervorgehobene Rolle zu. Patienten mit Vorerkrankungen sollen mit einem Attest ihren Anspruch auf eine Impfung nachweisen. Der Deutsche Hausärzteverband kritisiert, die Politik drücke sich vor „klaren Priorisierungsentscheidungen“ und lade sie „quasi durch die Hintertür“ bei den Hausärzten ab. Es sei unsinnig, Risikopatienten in die Praxis und dann ins Impfzentrum fahren zu lassen. Dadurch entstünden unnötige Kontakte mit der Gefahr einer Infektion.

Das sieht auch der Braunschweiger Arzt Schneider-Rathert so: In der Hausarztpraxis könne die Aufklärung in gewohnter Umgebung mit gewohnten Abläufen wohnortnah und zeiteffizient erfolgen. „Das ist entscheidend für den Erfolg der Impfkampagne, denn in der aktuell angespannten Situation überall im Gesundheitswesen ist keine Zeit mehr für doppelte Arbeit und ineffiziente Abläufe.“ Wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt bis Ende März 16 Millionen Impfdosen ankündige, bedeute das für jeden Hausarzt rund 25 Impfungen je Woche, rechnet der Mediziner vor. Diese sollten die Impfzentren jede Woche an die Praxen ausliefern. Denn anders als vielfach kommuniziert, sei der Impfstoff im Kühlschrank nach dem Auftauen noch fünf Tage haltbar. „Fünf Impfungen am Tag sind realistisch.“

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