Braunschweig. Ein Mädchen verschwindet, die Eltern vertuschen seinen Tod: Der frühere Chef der Gifhorner Kripo erinnert sich an den ungewöhnlichen Fall.

Jürgen Schmidt war 45 Jahre im Polizeidienst, 25 Jahre davon Kripo-Chef in Gifhorn. Er hat sich mit vielen grausamen Verbrechen beschäftigt, unzählige Spuren ausgewertet, Akten gewälzt, Zeugen vernommen – und immer wieder in menschliche Abgründe geblickt. Er weiß: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Trotzdem bekommt er noch heute eine Gänsehaut, wenn es um den Fall der getöteten Nadine geht, sagt er. Was ihn besonders beschäftigt: „Vielleicht hätte man diese Tat verhindern können.“

Der erste Kriminalhauptkommissar sitzt im großen Konferenzraum unserer Redaktion – seit vier Jahren ist er im Ruhestand und doch immer wieder ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um aufsehenerregende Kriminalfälle geht – wie den Fall des kleinen Mädchens, das misshandelt wurde und an den Folgen dieser Misshandlungen starb. Die Eltern vertuschten das Verschwinden, den Tod, sie verscharrten das Kind in einer Nacht- und Nebelaktion in der Nähe von Bad Gandersheim und gaben ein später geborenes Mädchen wiederum als Nadine aus. Im Umfeld hat das niemand gemerkt, es ist auch nicht dem Jugendamt aufgefallen, das sich mit der Familie beschäftigt hatte. Wie kann das sein? Jürgen Schmidt spricht im Podcast unserer Zeitung über die Hintergründe des Falls, die merkwürdigen Wendungen, die dieser genommen hat – und eine ungewöhnliche Zeugenaussage, mit der die Ermittlungen begannen.

Eine Zeugin berichtet, dass die kleine Nadine wohl misshandelt worden sei

Es ist der 30. Oktober 2006, als sich eine Frau bei der Polizei in Gifhorn meldet und eine unglaublich klingende Geschichte erzählt: Es gehe um eine Bekannte, sie kennen sich seit der Schulzeit. Sie habe sehr angespannt gewirkt, weil die Einschulung ihrer Tochter Nadine bevor stehe. Die jetzige Nadine sei aber gar nicht die eigentliche Nadine, habe ihr die Bekannte erzählt. Diese sei vor Jahren gestorben und man habe ihre später geborene Schwester als Nadine ausgegeben. Die Mutter habe auch Andeutungen gemacht, dass es zu Misshandlungen gekommen sei und dass ihr Ehemann das Kind „entsorgt“ habe. „Dieser Begriff ist tatsächlich so gefallen“, erinnert sich Schmidt. „Ich habe damals schon gesagt: Wenn sich ein Krimiautor oder eine -autorin diese Geschichte hätte einfallen lassen, hätten alle wahrscheinlich gesagt: Das ist völlig unrealistisch, das gibt es doch gar nicht.“ Aber als erfahrener Kriminalist weiß er, dass nichts unmöglich ist.

Die Polizei geht der Sache nach, überprüft zunächst, ob etwas über die Eltern aktenkundig ist – und wird tatsächlich fündig. Sie stößt auf eine Anzeige aus dem Jahr 2001: Nadine, im Oktober 2000 geboren, ist das dritte Kind der Familie. Der Großvater beschuldigte seinen Sohn, das Mädchen misshandelt zu haben. Ein Amtsarzt hatte es untersucht und einen blauen Fleck an der Stirn bemerkt. Die Eltern behaupteten, das Kind habe sich am Bett gestoßen. Eine Misshandlung war nicht nachzuweisen. „Diese Anschuldigung verlief im Sande, aber es war ein erster Hinweis für uns“, sagt Schmidt.

Kriminalbeamte fahren daraufhin zur Familie, sie klingeln und fragen nach dem Mädchen. Die Eltern stellen tatsächlich eine Tochter als Nadine vor – doch den erfahrenen Beamten fällt sofort auf, dass diese niemals sechs Jahre alt sein kann. Sie nehmen den damals 31-jährigen Mann und seine 30-jährige Frau mit zur Dienststelle, beginnen, sie getrennt voneinander zu befragen. Bald räumen beide ein, dass die erste Nadine 2003 starb – nachdem sie aus ihrem Hochbett gefallen war. Sie hätten ein Poltern und Schreie gehört, seien ins Kinderzimmer geeilt. Das Kind habe am Fuß des Bettes gelegen, aber keine sichtbaren Verletzungen gehabt. Deswegen hätten sie es wieder Schlafen gelegt. Doch dann gehen die Versionen auseinander: Die Mutter behauptet, das Kind sei am nächsten Morgen tot gewesen, der Vater sagt, es habe noch einige Tage gelebt.

Die Polizei bildet eine zehnköpfige Mordkommission, die Moko „Nadine“

„Ein gravierender Widerspruch, der uns zweifeln ließ, ob diese Geschichte wahr war“, sagt der ehemalige Kripo-Chef. Die Eltern erzählen den Beamten auch, dass sie das Kind in der Wohnung aufgebahrt hätten, um Abschied nehmen zu können. Nach einigen Tagen sei ihnen ein unangenehmer Geruch aufgefallen. Sie hätten die Leiche ins Auto getragen und dann in der Nähe des Harzes vergraben.

Der Leiter der Kriminalinspektion in Gifhorn, Jürgen Schmidt, spricht am 6. November 2006 während einer Pressekonferenz zu den Medienvertretern.
Der Leiter der Kriminalinspektion in Gifhorn, Jürgen Schmidt, spricht am 6. November 2006 während einer Pressekonferenz zu den Medienvertretern. © dpa | Archivfoto: Peter Steffen

Jürgen Schmidt stockt kurz. „Eltern verscharren ihr Kind, haben keine Erinnerungsstätte, es gibt keine ordentliche Beerdigung.“ Er schüttelt den Kopf. „Da kommen natürlich Zweifel auf an so einer Version.“ Die Polizei bildet eine zehnköpfige Mordkommission, die „Moko Nadine“.

Für die Ermittler ist es immens wichtig, die Leiche zu finden. Sie erhoffen sich, Rückschlüsse auf den Todeszeitpunkt und die Todesursache ziehen zu können. Der Vater führt die Polizisten in ein Waldstück zwischen Seesen und Bad Gandersheim. Das Gelände ist unwegsam, der Boden überzogen mit dicken Wurzeln, so dass man dort nur schwer graben kann. Die Beamten suchen, ohne Erfolg. Sie kämmen das Gebiet ein zweites Mal durch, diesmal mit fünf Leichenspürhunden. Wieder nichts. Mehrfach werden sie verschiedene Orte absuchen. Ohne Erfolg.

Warum vergraben die Eltern ihr Kind im Wald, wenn es doch ein Unfall war, wie behauptet? Schmidt war bei den Vernehmungen nicht dabei, aber er hat die Vernehmungsprotokolle gelesen und erinnert sich an eine aus Sicht der Ermittler wenig plausible Erklärung: Das Paar gibt an, aus Angst vor dem Jugendamt gehandelt zu haben, mit dem sie bereits in Kontakt standen. Man hätte ihnen doch vorwerfen können, dass sie keinen Arzt gerufen haben. Sie fürchteten, man könne ihnen die Kinder wegnehmen. Aber insgesamt habe das alles sehr gefühlskalt gewirkt, sagt Schmidt.

Der Verdächtige war laut DNA-Gutachten gar nicht der leibliche Vater

Nach und nach gewinnen die Ermittler ein zwiespältiges Bild von der Familie. Beide sind arbeitslos, leben oft in den Tag hinein. Zeugen erzählen von Streit und Prügeleien zwischen den Eltern. Die Mutter trinkt Alkohol, oft auch zu viel. Sie hat Beziehungen zu anderen Männern, lebt sonst eher zurückgezogen und hat ein durchaus emotionales Verhältnis zu ihren Kinder. Der Vater sei der Chef in der Beziehung gewesen, habe aber häufiger „sein Ding“ gemacht. Vielleicht war er mal ein wenig grob zu seinen Kindern gewesen, habe sie mal angeschrien, Schläge sahen sie nicht. Aber er soll eifersüchtig gewesen sein, sehr misstrauisch.

In diesem Zusammenhang sei auch schnell der Verdacht aufgekommen, dass der Vater gar nicht der leibliche Vater von Nadine war. „Bei den Ermittlungen wurde das auch als Motiv in Betracht gezogen“, sagt Schmidt. Der Vater könnte das Kind abgelehnt haben, weil er ahnte, dass es nicht von ihm sei. Später wird das durch eine DNA-Untersuchung auch erwiesen.

Was Nadine in ihrem kurzen Leben ertragen, welche Misshandlungen sie erdulden musste, lässt sich nur erahnen. Die Ermittler werten Dokumente, Videos, Fotos aus Familienalben aus. Ein Bild zeigt Nadine in blauer Hose und roter Mütze. Am Kopf hat sie eine Beule, die Füße sind rot und voller Blasen. Rechtsmediziner deuten diese später als Brandspuren. Allerdings können sie auch krankhafte Hautausschläge als Ursache nicht ausschließen. Eine Zeugin berichtet zudem, dass der Vater das Kind während eines Krankenhausaufenthalts seiner Mutter hungern ließ. Es habe viel geschrien.

Ein Foto zeigt Nadine mit vermutlich verbrannten Füßen

Inzwischen gehen die Ermittler davon aus, dass das Mädchen viel früher starb, als von den Eltern angegeben. Nicht erst im Januar 2003. Auf einem Video von Weihnachten 2002 ist die Familie bei der Bescherung zu sehen. Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, die Kinder spielen mit ihren Geschenken. Aber Nadine fehlt. Die Eltern behaupten, sie sei schon im Bett gewesen. Ist das glaubhaft, wenn selbst der nach ihr geborene Bruder, noch ein Baby, wach und munter ist? Die Kamera zeigt 15.09 Uhr.

Das letzte amtlich dokumentierte Lebenszeichen von Nadine gibt es im August 2001, als der Amtsarzt das Kind untersucht. Das Foto, das Nadine mit vermutlich verbrannten Füßen zeigt, ist auf Weihnachten 2001 datiert. Danach wird sie nicht mehr gesehen. Die Polizei kommt schließlich zu dem Schluss, dass sie womöglich Anfang 2002 starb. Demnach ist sie noch nicht einmal zwei Jahre alt geworden.

Der Vater wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung angeklagt

Im Januar 2007 schließt die Polizei ihre Ermittlungen ab, 166 Seiten ist die Akte dick. Es kommt zur Anklage gegen den Vater wegen Körperverletzung mit Todesfolge und schwerer Misshandlung. Der Mutter wirft die Staatsanwaltschaft Hildesheim vor, nichts gegen die Übergriffe ihres Mannes unternommen zu haben. Als im März der Prozess vor dem Landgericht in Hildesheim beginnt, ist das öffentliche Interesse groß. Zahlreiche Kamerateams drängen sich vor dem Gebäude, im Saal sitzen Reporter aus ganz Deutschland. Es wird ein langwieriger Prozess, denn es gibt keine Beweise, immer noch keine Leiche. 46 Zeugen und drei Sachverständige müssen gehört werden. Stundenlang schaut sich das Gericht Fotos und Videos an. Die Angeklagten verfolgen den Prozess weitgehend regungslos, schweigen. Die Mutter ist wieder schwanger, sie erwartet ihr siebtes Kind.

Der Vater der kleinen Nadine (dritter von links) und die Mutter sitzen mit ihren Anwälten im Saal des Landgerichts Hildesheim.
Der Vater der kleinen Nadine (dritter von links) und die Mutter sitzen mit ihren Anwälten im Saal des Landgerichts Hildesheim. © Archivfoto: Peter Steffen/DPA

Staatsanwalt Wolfgang Scholz wirft in seinem rund zweistündigen Plädoyer einen Blick auf die Ehe. Er ist überzeugt: Nur das Verhältnis der beiden Angeklagten zueinander macht das Schicksal des Mädchens begreiflich. Er stützt sich unter anderem auf Zeugen, die immer wieder von Streit berichten. Und auf den Seitensprung der Mutter, aus dem die kleine Nadine vorgegangen ist. „Der Angeklagte hat seinen Frust und seine Aggressionen an Nadine abreagiert, die er als Grund allen Übels in der Familie sah.“ Er spricht von Machtdemonstrationen gegenüber seiner Frau, von völliger Hilflosigkeit. Die Verteidiger fordern Freispruch für das Ehepaar: Nadines Tod sei nicht aufgeklärt.

Am Ende folgt das Gericht der Argumentation der Anklage und verurteilt den Vater zu acht Jahren Haft, die Mutter zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr. „Auch ein Indizien-Beweis ist ein Beweis“, betont der Vorsitzende Richter Ulrich Pohl. „Die Gesamtschau der Indizien trägt die Schuldsprüche.“

Der Großvater ruft Journalisten an: „Ich habe Nadines Leiche gefunden“

Es gibt ein Urteil, das später auch rechtskräftig wird. Doch abgeschlossen ist der Fall damit nicht. Einige Wochen später, am Pfingstsonntag, klingelt das Handy in unserer Redaktion. Es ist der Großvater. „Ich habe Nadines Leiche gefunden“, sagt er. Er wolle Zeugen haben. Er wolle, dass die Presse dabei ist, wenn die Polizei kommt, um die Überreste des Mädchens zu bergen. „Ich traue keinem mehr. Es sind Intrigen und Manipulation im Spiel.“ Etliche Reporter versammeln sich am Nachmittag auf einem Rastplatz in der Nähe von Bad Gandersheim. Am Auto des Großvaters kleben gelbe Schilder: „Fehlurteil“, steht darauf. Und: „Justiz manipuliert im Fall Nadine.“ Er führt sie zu einem Loch im angrenzenden Waldstück. Der Boden ist zerfurcht, neben einem großen Loch steht ein Topf mit rosa Blumen, daneben ein Pappschild: „Es war ein Unfall. Die Justiz wollte sie nicht finden“, steht darauf. In dem Loch liegen die Reste eines kindlichen Skeletts.

 Der Großvater hat Plakate an die Scheiben seines Wagens geklebt.
Der Großvater hat Plakate an die Scheiben seines Wagens geklebt. © Archivfoto: Katrin Schiebold

Jürgen Schmidt erinnert sich gut an den Moment, als die Nachricht vom Leichenfund die Polizei erreicht. Der Großvater wartet mit Journalisten triumphierend auf das Eintreffen der Beamten. „Das war kein Ruhmesblatt für uns“, sagt er. „Da fragt man sich schon: Was haben wir falsch gemacht?“ Aber auch die Presse muss sich später zu Recht fragen lassen, warum sie sich vom Großvater vor den Karren spannen ließ.

Der Sohn hat dem 58-Jährigen im Gefängnis den Ablageort von Nadines Leiche beschrieben, der sich nur unweit der Stelle befand, wo die Polizei gesucht hatte. Der Großvater, der 2001 seinen Sohn noch wegen möglicher Kindes-Misshandlung anzeigte, erhofft sich eine Wiederaufnahme des Verfahrens, weil er mittlerweile an dessen Unschuld glaubt – und irrt sich gewaltig. Rechtsmediziner untersuchen die Überreste, die tatsächlich von dem Mädchen stammen. Sie stellen verheilte Rippenbrüche und einen abgeheilten Schädelbruch fest, Brüche, die vor dem Tod entstanden sein mussten – und kommen zu dem Schluss, dass es Spuren von Misshandlungen sind. Endlich fügt sich das letzte Teil in das Puzzle.

Wenn sich jemand eingemischt hätte – wäre Nadine noch am Leben?

Trotzdem bleiben Fragen. Wie kann es sein, dass ein Kind einfach verschwindet und keiner Alarm schlägt? Verwandte, Nachbarn, Bekannte fragen nach dem Mädchen und geben sich mit einfachen Antworten zufrieden: Nadine schläft, sie ist krank, bei der Oma. „Wir wollten uns nicht einmischen“, bekommen die Polizeibeamten später häufig zu hören. Letztlich hat auch das Jugendamt nie direkt nachgeforscht, obwohl es im Kontakt mit der Familie stand.

Doch wenn sich jemand eingemischt, wenn jemand nachgebohrt hätte – wäre Nadine noch am Leben? „Ich will keinen Vorwurf machen“, sagt Jürgen Schmidt. Es sei ja durchaus glaubwürdig, dass Kinder auch mal bei den Nachbarn oder bei den Großeltern sind. „Aber bei der Masse an Anhaltspunkten in so einer Problemfamilie hätte man intensiver nachhaken können.“ Vielleicht auch müssen. Das hat niemand getan.