Braunschweig. Der weltweit bekannte Kriminalbiologe Mark Benecke äußert sich über den Fall Maddie McCann, die Suche am Tatort und seinen Besuch in Braunschweig.

Dr. Mark Benecke ist einer der weltweit bekanntesten und erfolgreichsten Kriminalbiologen. Als Spezialist für forensische Entomologie (Insektenkunde) wird er zu Fällen, Kongressen oder Schulungen in der ganzen Welt gerufen. Unter anderem hat er die Zähne von Hitler untersucht und Mumien der Kapuzinergruft von Palermo. In Braunschweig wird er bis heute vor allem mit dem Fall Geyer in Verbindung gebracht: Der Pastor wurde 1998 wegen Totschlags an seiner Frau verurteilt, an der Aufklärung des Falles war Benecke maßgeblich beteiligt, als er anhand an der Leiche gefundenen Fliegenmaden den Ablagezeitpunkt des Opfers bestimmte.

Am Dienstag wird Benecke das Leibniz-Institut DSMZ in Braunschweig besuchen – die deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen. Im Vorfeld äußert sich der 49-Jährige im Interview über den Fall Maddie McCann, die Spurensuche am Tatort und seine Beziehungen zu Braunschweig.

Die Prozessberichterstattung gegen den 43-jährigen Verdächtigen finden Sie hier:

Herr Benecke, Ihr Spezialgebiet sind ja Fälle am Rande des Möglichen. Kommen wir auf den Fall Maddie McCann zu sprechen, der gerade in unserer Region auf großes Interesse stößt, weil der mutmaßliche Täter zuletzt in Braunschweig gemeldet war. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie gehört haben, dass der mögliche Täter nach so vielen Jahren gefunden ist?

Nichts Besonderes. Früher oder später kriegt man heute immer heraus, was passiert ist – entweder, weil Akten freigegeben werden oder DNA-Spuren vorliegen. Manchmal dauert es halt länger, bis ein Fall aufgeklärt ist. Mitunter auch Jahrhunderte. Der dritte Präsident der USA, Thomas Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, unterhielt zum Beispiel eine Liebesbeziehung mit einer dunkelhäutigen „Sklavin“. Dass aus dieser Beziehung Kinder hervorgegangen sind, hielt sich lange als Gerücht. Historikerinnen und Historiker versuchten vergeblich, das Geheimnis zu lüften – bis 1998 eine DNA-Analyse die Wahrheit zutage brachte. Das Ergebnis war, dass die Nachkommen dieser Kinder tatsächlich von Jefferson abstammen. Der Fall ist erst geklärt worden, als genetische Fingerabdrücke möglich waren.

Also ist es weder die Frage ob, sondern wann ein Verbrechen aufgeklärt werden kann?

Angehörigen von Todesopfern müssen wir immer sagen: Wir garantieren nicht, dass Sie noch eine Aufklärung Ihres Falles erleben werden. Aber wir können wenigstens aus Erfahrung sagen, dass die Lösung meist irgendwann bekannt wird. Ich arbeite seit 25 Jahren in der wissenschaftlichen Forensik. Manchmal hat es 15 Jahre gedauert, bis sie allein wegen des behördlichen Klimbims ins Laufen gekommen sind. Manchmal zieht es sich ewig, weil irgendwelche Anträge gestellt werden, viele Leute wissen nicht, wie sie sich anwaltlich vertreten lassen sollen – und dann ist eine Akte schnell geschlossen, sind Spuren weggespült.

Das gilt beispielsweise für die vielen Fälle der Eltern aus der ehemaligen DDR, deren Kinder verschwunden waren und die endlich Aufschluss darüber haben wollen, ob sie getötet oder zwangsadoptiert wurden. Es wird noch Jahre dauern, bis wir da Klarheit haben. Zumal auch noch die Stasi leider bis heute mitspielt, die viele Kinder verschwinden ließ.

Haben Sie noch ein Beispiel im Kopf?

Ein deutscher Junge ist 2006 in Österreich angeblich barfuß mit einer Matratze bei Minusgraden kilometerweit durch den Schnee gewandert und dann in ein Flussbett gestürzt. Die Polizei ging von einem Unglück aus. Doch dann wandte sich die Familie an uns, um den Fall noch einmal zu untersuchen. Es hat Jahre gedauert, bis herauskam, dass der Junge getötet wurde und bis der Täter verurteilt war, nachdem die Leiche zudem noch exhumiert werden musste. Die österreichischen Ermittler hatten sich sehr schnell festgelegt, dass es keinen Täter gab. Oft erschweren grenzüberschreitende Kriminalfälle die Aufklärung. Die deutsche Polizei hat im Ausland natürlich meist keine Rechte.

Nehmen wir noch mal den Fall Maddie McCann: Welche Möglichkeiten gibt es denn überhaupt noch, nach so langer Zeit beweiskräftige Spuren zu finden?

Zeit ist nicht das Problem. Entscheidend ist, ob noch Spuren da sind. Ein Beispiel: Ich habe auf den Philippinen das landesweit erste DNA-Labor aufgebaut und da hatten wir noch uralte Objektträger herumliegen. Bei Sexualdelikten werden mit einem Wattestäbchen Vaginal-, Oral- oder Analabstriche gemacht, diese auf Glasplättchen gestrichen und mikroskopiert. Solche Plättchen lagen in dem Labor zum Teil im Staub. Es war trotzdem kein Problem, noch einen genetischen Fingerabdruck zu machen, auch 20 Jahre später.

Oder ein anderes Beispiel: 2012 wurde unter einem Parkplatz im britischen Leicester ein Skelett ausgegraben. Eine DNA-Analyse ergab, dass es die Überreste des englischen Königs Richard III. waren. Er war 1485 in einer Schlacht gestorben. In kriminalbiologischen Laboren können wir noch jahrhundertealte Spuren auswerten.

Der Fall Maddie McCann

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    Bislang ist noch keine Leiche von Maddie gefunden worden. Inwiefern kommt man auch ohne Leichenfund weiter?

    Es kommt darauf an, was an weiteren Beweismitteln vorliegt: Handydaten oder Blutspuren zum Beispiel. Für eine Beweisführung vor Gericht brauchen die Juristinnen und Juristen nicht immer eine Leiche. Wenn die DNA eines Täters in einem Raum gefunden wurde, er aber behauptet, er sei nie in dem Raum gewesen, muss der Richter oder die Richterin diesen Widerspruch bewerten. Das ist eine rein rechtliche Frage.

    Was wissen Sie über die Hintergründe eines Falles, wenn Sie zum Tatort gehen?

    Ich habe kein Interesse an den Hintergründen. Oft hat ja ein Straftäter schon alle möglichen Straftaten hinter sich: Verkehrsdelikte, Drogen, Körperverletzung, vielleicht hat er auch schon jemanden getötet – mich interessiert das nicht. Auch die Gefühle von Angehörigen oder die Presseberichte über einen bestimmten Fall blenden wir aus. Wir bekommen regelmäßig 20 Aktenbände, die wir im Team durcharbeiten, da filtern wir einfach nur die Spuren raus, die wir für unsere Arbeit benötigen.

    Gibt es Fälle, die besonders Ihren kriminalistischen Spürsinn wecken?

    Für mich sind alle Fälle gleich. Wenn ich anfangen würde, Unterschiede zu machen, wäre ich im falschen Beruf.

    Gibt es trotzdem einen Fall, der Ihnen noch als herausragend in Erinnerung geblieben ist?

    Nein, wie gesagt: Für uns sind wirklich alle Fälle gleich. Um unsere Arbeit anschaulich zu machen, müssen Sie sich ein Salatsieb vorstellen: Man schmeißt Kopfsalat, Peperoni, Paprika und Gurken hinein – das sind die Informationen, die etwa Journalisten, die Polizei und das Gericht über einen Fall bekommen. Wir Kriminalbiologen hingegen gucken uns an, was durch das Sieb durchläuft. Wir untersuchen die Schmutzteilchen oder das, was man zunächst nicht sieht, wenn man den Salat wäscht – etwa kleine Tierchen, die in den Abfluss fließen. Wir sind die, die das Unsichtbare betrachten. Das kann in einem von tausend Fällen mal interessant werden vor Gericht, aber in vielen Fällen ist das für die Öffentlichkeit überhaupt nicht spannend. Wer mit uns im Labor arbeitet, muss Spaß an dem haben, was andere nicht interessiert. Da bleiben nicht viele übrig. Selbst wenn Du die Eigenschaft hast, ein bisschen nerdig und kauzig zu sein, kommt irgendwann der Punkt, an dem man merkt, dass man mit diesem Beruf kein Geld verdient.

    Statement der Staatsanwaltschaft Braunschweig am Donnerstag

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      Würden Sie sich als Nerd bezeichnen?

      Mein Freund Klaus Fehling hat eine gute Definition für den Begriff gefunden, lange bevor dieser Eingang in die Umgangssprache fand: Wenn Du Dich mit etwas auskennst, ohne auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, bist Du ein Spezialist. Die Amerikaner haben solche Spezialisten schon vor vielen Jahren „Nerd“ genannt. Diese Definition stimmt auf jeden Fall. Du musst zufrieden mit dem Ergebnis einer Messung sein, auch wenn das niemanden interessiert und womöglich keine Bedeutung vor Gericht hat. Du musst versinken können in den Fall. Wir fressen Akten und Spuren in uns rein. Wir erfassen aber keine sozialen Zusammenhänge.

      Um auf Ihre Besuche in Braunschweig zu sprechen zu kommen: Welchen haben Sie positiver in Erinnerung: Ihren Auftritt als DJ Dr. Doom im Stereowerk Anfang des Jahres oder den vor dem Landgericht im Prozess gegen Pastor Geyer 1998, als Sie wegen Ihres Gutachtens eigens aus New York eingeflogen wurden?

      Ich habe vor allem die Pre-Show zum Teaser von „Sky Sharks“ angenehm in Erinnerung. Das war 2015. In dem Film geht es darum, dass Geologen in der Arktis auf die Überreste eines geheimen Labors der Nazis stoßen, in dem genetisch veränderte Haie gezüchtet wurden. Diese versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das Filmteam stammt aus Braunschweig und es spielen auch einige sehr bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler mit. Ich fand es großartig, bei so einer schrägen Sache mitmachen zu dürfen. Der Film soll demnächst rauskommen.

      Trotzdem haben viele hier in Braunschweig noch den Fall Geyer in Erinnerung. Ist der für Sie eine alte Kamelle?

      Nein, das würde ich nicht so sagen. Pastor Geyer ist Pastor Geyer. Es gibt aber eine verrückte Verbindung zu dem Fall: Veronika Geyer-Iwand, also die getötete Frau des Pastors, war die Religionslehrerin des Sängers der Band Oomph!, die wiederum vor einigen Tagen für die neue Platte von Bianca Stücker und mir einen Remix für „Chelsea Hotel“ gemacht hat. Irre, wie sich manche Kreise schließen.

      Jetzt sind Sie am Dienstag wieder in Braunschweig, um das DSMZ zu besuchen, die deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen. Was versprechen Sie sich von dem Besuch?

      Ich hatte mal vor vielen Jahren einen Vortrag über Farbe und Gerüche von Leichen gehalten, die von Bakterien kommen. Da hatten mich Kolleginnen und Kollegen des DSMZ angesprochen, wir kamen über ein grünes Leichen-Bakterium ins Gespräch. Seitdem besteht ein Kontakt. Später kochte das Thema in der Wissenschaft richtig hoch. Der persönliche Besuch vor Ort ist wichtig, um einfach mal neugierig gegenseitig in die Labore zu schauen. Es gibt immer etwas unerwartetes zu sehen. Interessant könnte zum Beispiel das Thema Cross-Kontamination sein. Das ist ein riesiges Problem in der Forensik: Spuren werden von A nach B geschleppt und damit verwischt. Dasselbe Problem gibt es in bakteriologischen Sammlungen auch.

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