Braunschweig. Kinderschutzbund und Ärzte warnen vor den psychischen und gesundheitlichen Folgen der Krise bei den Kindern und fordern Hilfsangebote.

In den Diskussionen um eine baldige Rückkehr zum Kita-Alltag stehen meist die Bedürfnisse von Eltern oder wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. Was ist aber mit den Bedürfnissen der Kinder? Johannes Schmidt, Vorsitzender des Kinderschutzbunds Niedersachsen, ärgert sich darüber, dass deren Rechte in der Corona-Krise beschränkt wurden, ohne die Folgen in den Blick zu nehmen: „Kinder spielen in den aktuellen Bewertungen keine Rolle“, sagt er. „Wir müssen mit Nachdruck dafür sorgen, dass sie wieder in den Fokus rücken.“

Insbesondere bei Kindern habe ja die Befriedigung von Grundbedürfnissen eine enorme Bedeutung. Kinder bräuchten soziale Kontakte, Freiräume, feste Strukturen, stabile Bindungen und Sicherheit, die Möglichkeit, sich altersgerecht zu entwickeln. Das sei fundamental, um die körperliche und psychische Gesundheit zu stärken. „Das, was wir bei der so langen Isolierung von Familien nicht mehr wahrnehmen können, ist der entstandene chronischer Stress aufgrund eines gravierenden Mangels an Bedürfnisbefriedigung oder aufgrund einer ständigen Überforderung des Kindes mit seiner ganzen Familie“, sagt Schmidt. Er ist überzeugt: „Dieses wird sehr nachhaltige negative Folgen für die Gesundheit haben.“

Lebensbedingungen wie beengte Wohnverhältnisse, wenige Gelegenheiten, Freizeitangebote wahrzunehmen, Angst vor Jobverlust sowie Überlastungen im Alltag steigerten das Risiko von Stresssituationen in der Familie enorm. „Wenn dann weniger Hilfs- und Unterstützungsangebote in Anspruch genommen werden können, wird eine Dynamik deutlich, in der sich aktuell Kinder, Jugendliche und Familien befinden“, ist Schmidt überzeugt.

Auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin findet in einer Stellungnahme deutliche Worte: „Kinder und Jugendliche wurden in den bisherigen Entscheidungsprozessen nicht als Personen mit ebenbürtigen Rechten gesehen, sondern als potenzielle Virusträger.“ Sie seien in ihren Lebenswelten massiv eingeschränkt worden, nicht zum eigenen, sondern zum Schutz Anderer. Die Kritik der Mediziner: In den politischen Beratergremien zur Bewältigung der Corona-Krise fehlten Experten für Kinder- und Jugendliche, so seien keine Kinder- und Jugendärzte und keine Pädagogen vertreten. Der Zugang zur Notbetreuung in Kindertagesstätten und Schulen richte sich primär nach dem Beruf der Eltern und nicht nach den Bedürfnissen der Kinder. Wenn es nun um Regeln zur weiteren Normalisierung geht, müssten diese dringend in den Blick genommen werden.

Die Ärzte weisen darauf hin, dass es bisher unklar ist, wie wichtig Kinder für die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sind; die bisherigen Daten legten nahe, dass sie bislang für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen. Doch die Folgen der Einschränkungen, der Schließung von Kitas und Schulen seien enorm. Eltern müssten sich im Homeoffice um Beruf und Kinder kümmern und würden bei der Betreuung allein gelassen. Unterstützung und Hilfe durch Jugendämter oder soziale Einrichtungen fielen weitgehend weg. Aufsuchende Hilfen könnten nicht mehr gewährleistet werden, besonders die Jugendämter damit ihre Wächterfunktion als Fürsprecher der Kinder nicht adäquat wahrnehmen. Nach Einschätzung der Ärzte bedeutet die abrupte Schließung von Kitas und wochenlange Kontaktsperre zu den Freunden und Erzieherinnen auch vor diesem Hintergrund einen unverstandenen und womöglich sogar „traumatischen Verlust von wichtigen Bindungspersonen“. „Die Belastungen wiegen in sozialschwachen Familien besonders schwer und vergrößern die Risiken für eine gute Entwicklung von Kindern, sie erhöhen aber auch das Risiko, dass Kinder Vernachlässigung und Gewalt erfahren.“

Der Kinderschutzbund fordert deshalb, dringend Angebote vor Ort zu schaffen, damit Kinder Ängste, Sorgen und traumatische Erlebnisse verarbeiten können. Als Beispiel nennt Johannes Schmidt das Projekt „Malort“ in Hameln: Kinder können hier unter Aufsicht von geschulten Mitarbeiterinnen zum Pinsel greifen und das auf Papier zum Ausdruck bringen, wofür sie sonst nur schwer Worte finden. Freie Angebote in den Kitas seien zudem eine Möglichkeit, auch solchen Kindern Kontakte zu ermöglichen, die in den nächsten Wochen noch nicht in die Notbetreuung dürfen. „Wir brauchen kreative Angebote“, sagt Schmidt. „Und eine Debatte um Investitionen in die soziale Infrastruktur, in die Entwicklung von nachhaltigen Schutzkonzepten für ganze Stadtteile.“ Dabei gehe es um Fragen des Wohnungsbaus, um Ghettos zu vermeiden, um Konzepte für offene Jugendarbeit und Anlaufstellen für Kinder vor Ort, aber auch um Fragen, wie das Gesundheitswesen wieder stärker in die Stadtteile integriert werden kann, etwa durch „Stadtteilschwestern“ oder „Stadtteilhebammen“.

„Krise heißt auch Chance“, betont Schmidt. In dem Fall, die Chance zu erkennen, dass auch Kinder systemrelevant seien. Darum gehörten die Kinderrechte endlich ins Grundgesetz. „Aber auch das scheint in der Bundesregierung, trotz Ankündigung, keine Relevanz mehr zu haben.“