Wolfsburg. Nach den dramatischen Entwicklungen in der VW-Stadt schlägt eine Expertin der Ostfalia Alarm. Das Pflegesystem sei „abgewirtschaftet“ worden.

Die Corona-Lage in deutschen Pflegeheimen wird immer dramatischer. Nach mehreren Todesfällen in einem Altenheim im bayerischen Würzburg hat das tödliche Virus nun auch auch die VW-Stadt Wolfsburg mit voller Wucht getroffen. Hier starben am Coronavirus bislang 18 Menschen in Pflegeeinrichtungen, allein 17 im Hanns-Lilje-Heim, in dem Personen mit schweren Demenzverläufen versorgt werden. Die Zahl der infizierten Heimbewohner und Pfleger ist dermaßen hoch, dass die Stadt weitere Tote befürchtet. Auch juristische Konsequenzen gibt es schon. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nach der Anzeige eines Wolfsburger Anwalts gegen Unbekannt. Der wirft der Diakonie Wolfsburg als Betreiberin vor, pflegerische und hygienische Standards im Hanns-Lilje-Heim missachtet zu haben.

Doch welche politischen Konsequenzen folgen nun? Wie kann in dieser dynamischen Corona-Lage im Bereich der Pflege gegengesteuert werden? Und sind die Toten von Wolfsburg nur der Anfang eines massenhaften Sterbens von Alten und Hilfsbedürftigen?

Welche Konsequenzen zieht das Landesgesundheitsministerium?

Das Gesundheitsministerium in Hannover hat als Konsequenz aus den Toten von Wolfsburg einen sofortigen Aufnahmestopp in niedersächsischen Pflegeheimen angeordnet. Eine Ausnahme betreffe nur Einrichtungen, die eine strikte zweiwöchige Quarantäne gewährleisten könnten, sagte Ministerin Carola Reimann auf einer Pressekonferenz. Reimann appellierte mit Blick auf stark zunehmende Fallzahlen in niedersächsischen Pflegeeinrichtungen eindringlich an die Vernunft der Menschen, ihre sozialen Kontakte auf das nötigste einzuschränken: „ Besuchsverbote, sowie die konsequente und frühzeitige Isolierung von Erkrankten, sind die einzigen Mittel, die wir derzeit im Kampf gegen Corona haben.“ Härtere Maßnahmen seien auch mit Blick auf die Ereignisse in Wolfsburg daher unumgänglich gewesen. Es gebe viele Hinweise, dass die Besuchsverbote für Alters- und Pflegeheime nicht beachtet worden seien.

Spielraum für Lockerungen der Kontaktverbote sieht Reimann dagegen nicht. „Wer jetzt schon falsche Hoffnungen nährt, der handelt nicht nur leichtfertig, sondern auch unverantwortlich. Dieses Gerede setzt wirklich das Leben von vielen Tausend Menschen aufs Spiel.“

Die aktuellen Vorkommnisse hätten zudem gezeigt, wie richtig die Entscheidung gewesen wäre, Rehakliniken als zusätzliche Krankenhäuser für die Versorgung umzuwandeln. „Wir brauchen genau diese Kapazitäten, damit wir Ausweichmöglichkeiten für Patienten haben, die unter anderen Erkrankungen leiden und stationär weiterbehandelt werden müssen“, sagte sie. Landesweit seien dadurch etwa 2000 zusätzliche Bettenplätze entstanden.

War die Pflege auf Coronavorbereitet?

Prof. Martina Hasseler ist Expertin für Klinische Pflege an der Ostfalia-Hochschule am Standort Wolfsburg. Das, was in dem Wolfsburger Pflegeheim passiert sei, sei dramatisch – überraschend käme es aber nicht. „Ich habe schon vor Wochen davor gewarnt, dass es ein Irrglaube ist, zu denken, unser Gesundheits- und Pflegesystem sei vorbereitet auf eine große Anzahl von Covid-19-Erkrankungen“, sagt sie. Das deutsche Pflegesystem wäre seit Jahren „abgewirtschaftet“ worden. Besonders verheerend sei laut Hasseler der Schlüssel zwischen Pflegefachpersonen und Patienten, der in Deutschland mit den neuen Personaluntergrenzen auf Intensivstationen bei 1 zu 3,5 liege. „Das ist eine Vorgabe, die die Regierung gewollt hat. Andere Länder, die jetzt schon viel stärker unter dem Coronavirus leiden, hatten vor Corona einen besseren Personalschlüssel bei der Pflege in den Krankenhäusern. Dazu zählt auch Spanien, Großbritannien, die skandinavischen Ländern, Belgien und weitere mehr“, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin. Dort liege der Schlüssel bei 1 zu 2.

Die Wolfsburger Expertin weist daraufhin, dass sich die Debatte in Deutschland in den letzten Wochen zu stark auf die Kapazitäten, Ausrüstung und Ausstattung von Krankenhäusern konzentriert habe. „Die Situation der Pflegeberufe wurde vergessen. Wir haben mehr Intensivbetten als in Italien. Das ist richtig. Betten behandeln aber keine Menschen“, so Hasseler. Die durch Corona ausgelöste Infektionskrankheit Covid-19 sei eine Erkrankung, die hochkomplex und extrem intensiv ist und viel Wissen bei der Behandlung voraussetze. Das betreffe aber nicht nur das Personal in Kliniken, sondern auch in der Pflege in Heimen und durch ambulante Einrichtungen.

Auch die Stiftung Patientenschutz hatte nach den dramatischen Vorfällen in Wolfsburg davor gewarnt, die Pflegekräfte nicht zu vergessen. „Die Nachrichten von infizierten Pflegebedürftigen und Pflegekräften sowie von Verstorbenen sind bedrückend“, sagte auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der Katholischen Nachrichten-Agentur. Es fehle an Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Schutzkleidung. „Doch nichts geschieht, um diese Misere schnell zu beseitigen.“ Daher seien Pflegeheime derzeit „ein hochgefährlicher Ort“ für Mitarbeiter und Bewohner. Brysch forderte von der Politik, zusammen mit dem Robert-Koch-Institut Schutzpläne für Alten- und Pflegeheime zu verabschieden. Ein Flächenbrand in der Pflege könne auch die Intensivmedizin nicht mehr auffangen.

Wie soll Pflege auf Distanzfunktionieren?

Pflege stehe laut Gesundheitsexpertin Hasseler immer vor dem Problem, den durch die Virologen vorgegebenen Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. „Da stellt die Pflege von Demenzkranken keine Besonderheit dar“, sagt sie. Hasseler verweist auf die Unterstützung beim Essen und Trinken, bei der Mobilisation, wie zum Beispiel der Unterstützung beim Gehen oder Aufstehen vom Bett oder Stuhl, den Umgang bei Weglauf- und Hinlauftendenzen, wenn Menschen mit demenziellen Erkrankungen den Drang haben umherzugehen, oder die Reinigung inkontinenter Patienten in Heimen. In Deutschland hätten schlecht ausgestattete Einrichtungen schon vor Corona enorme Probleme gehabt, Isolationsvorschriften umzusetzen. „Es gab immer wieder Probleme, wenn beispielsweise resistente MRSA-Keime entdeckt wurden oder ein Noro-Virus im Umlauf war“.

Aus der Corona-Krise müssten grundsätzliche Lehren gezogen werden, sagt Hasseler. „Ich fordere, dass vor allem endlich eine umfassende Diskussion über die Systemrelevanz von Pflegeberufen geführt wird. Sie wurden bis jetzt nur als lästige Kostenfaktoren betrachtet, die man bis zum Umfallen runter rationieren kann. Die Personen, die diese Berufe ausüben, besitzen eine dreijährige Ausbildung mit Staatsexamen, zum Teil ergänzt mit einer zweijährigen Fachweiterbildung. Sie gehören verantwortlich in die patientennahe Versorgung und nicht abgeschoben in Hauswirtschaft und Servicetätigkeit.“ Die Verzweiflung, mit der jetzt nach qualifiziertem Pflegepersonal gesucht werde, unterstreiche die Relevanz dieser Berufsgruppe.

Gefährdet der Mundschutz die Pflege von dementen Personen?

Pflegeexpertin Hasseler hält es in diesen Tagen für geboten, Mundschutz in allen Heimen zu tragen. Auch Pfleger und Pflegerinnen, die Demenzkranken täglich helfen, sollten sich daran halten. Hier stehe die Frage der Ansteckung und das Risiko der Weiterverbreitung im Vordergrund. Je schwerer der Verlauf einer Demenzerkrankung, desto weniger gut könnten sich Patienten an Personen erinnern, die sie kurzzeitig betreuen. Diese Menschen erinnerten sich in der Regel höchstens an Personen, zu denen sie einen langfristigen beziehungsweise einen weit in der Vergangenheit liegenden Bezug hätten. „Hier ist das Problem, dass Patienten durch den Mundschutz der Pfleger verängstigt werden, nicht so groß“, sagt Hasseler.

Erste Materiallieferungen an Kliniken und Pflegeheime

Ihre Kollegin, Prof. Sandra Verena Müller, arbeitet an der Fakultät Soziale Arbeit der Ostfalia-Hochschule. Sie beschäftigt sich mit Rehabilitation und Teilhabe von Demenzerkrankten, aber auch benachteiligten Menschen. „Wir sind in einer besonderen Lage und haben es mit besonders schutzbedürftigen Menschen zu tun“ sagt Müller. Im Fall des Wolfsburger Pflegeheimes hätten sich Menschen mit dem Coronavirus infiziert, deren demenzielle Erkrankungsverläufe sehr schwer gewesen seien. „Bei dieser Personengruppe kann es durchaus sein, dass das Tragen von Mundschutz von Pflegern zu nachhaltigen Angststörungen oder wahnhaften Vorstellungen führen kann.“

Erschwerend käme hinzu, dass Menschen mit Demenz oder schwersten Beeinträchtigungen wie dem Down-Syndrom im Hier und Jetzt lebten und wenige Gedanken an die Zukunft verschwenden würden. „Deswegen ist es so mühsam und gleichzeitig so wichtig, immer wieder kleinschrittig zu sagen, warum Händewaschen nötig ist und Abstand halten wichtig“, liefert Müller eine Erklärung für die Anfälligkeit dieser Personen, Corona nicht zu überleben. Diese Menschen bräuchten nichts dringender als die Routine des Alltags, die durch Corona außer Kraft gesetzt worden sei.

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Kann ich meine Angehörigen aus dem Heim holen?

Auch Menschen in Heimen haben ein Selbstbestimmungsrecht und damit das Recht, dort zu leben, wo sie es wünschen, sagt Kristjan Diehl von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Wenn Personen in Pflegeheimen diesen Wunsch nicht mehr äußern könnten, bestimme darüber der rechtliche Vertreter. Bei diesem handelt es sich entweder um einen bevollmächtigten Angehörigen oder einen vom Gericht bestellten Betreuer. „Natürlich ist es grundsätzlich möglich, Angehörige aus einem Heim zu holen, wenn man das Gefühl hat, sie sind dort nicht sicher“, sagt Diehl.

Mit Blick auf die Viruserkrankung Covid-19 gehe es aber auch um eine moralische Verantwortung. Es gehe um eine Hochrisikogruppe, die weiter pflegerisch versorgt werden müsse und darum, ob man mit der Herausholung die Betroffenen selbst oder weitere Personen gefährde. „Diese Frage kann auch mit der Heimleitung geklärt werden. So kann es Vorteile haben, den zu Pflegenden außerhalb der Einrichtung zu isolieren. Das kann auch im Interesse des Heimes sein. Wesentlich hierfür ist das Ergebnis des Tests aller Beteiligten.“ Die Rückaufnahme ins Heim nach der Pandemie sei ebenfalls Verhandlungssache. Es gehe um Verträge, die man kündigen, aussetzen oder auch weiterlaufen lassen könne. „Das sind Fragen, die von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden müssen.“