Braunschweig. Der Braunschweiger Experte sagt: Die Corona-Krise wird Abschottungs-Tendenzen in Europa fördern. Solidarität werde auf der Strecke bleiben.

Der Braunschweiger Politikwissenschaftler und ehemalige Leiter des Instituts für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU Braunschweig, Prof. Ulrich Menzel, schreibt in einem aktuellen Aufsatz für die politische Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ von der Entzauberung der Globalisierung (wir berichteten am 16. März). Dazu würden maßgeblich die Lehren beitragen, die die Politik aus der Corona-Krise ziehen werde, ist das langjährige Politik-“Orakel“ unserer Zeitung überzeugt. Welche kurz- und mittelfristigen politischen Folgen die Pandemie haben wird, und in welcher Einschätzung er sich schon heute mit Blick auf das Jahr 2020 revidieren muss, erklärt Menzel im Interview mit unserer Zeitung.

Welche Folgen hat die Corona-Krise für die politischen Akteure in Deutschland?

In einer Krise wächst das Bedürfnis der Bürger nach Sicherheit und Orientierung. Der Wunsch der Menschen nach Führung wird größer, und es gibt auch eine grundsätzliche Bereitschaft der Bevölkerung, den Vorgaben zu folgen. Es schlägt die Stunde der Exekutive. Die Opposition ist mehr oder weniger zum Mitmachen verurteilt.

Politologie-Professor Ulrich Menzel bei einer Veranstaltung im BZV Medienhaus im Dezember 2019
Politologie-Professor Ulrich Menzel bei einer Veranstaltung im BZV Medienhaus im Dezember 2019 © Bernward Comes | Braunschweiger Zeitung

Das klingt zumindest nach politischer Stabilität in äußerst schwierigen Zeiten…

Ja, das Problem ist nur, dass die Politiker zwar Entscheidungen treffen müssen, sie aber auch nicht wissen, ob sie Wirkung haben, weil es diese Situation noch nicht gab. Fakt ist, dass in diesen Tagen die Einschätzung der Virologen darüber entscheidet, welche politischen Schritte eingeleitet werden. Das hat man auch bei der Abstimmung zu dem Nachtragshaushalt im Bundestag gesehen. Regierung und Opposition rücken zusammen, der Populismus ist mehr oder weniger sprachlos.

Das sind die kurzfristigen Entwicklungen. Wie schätzen Sie die politische Lage langfristiger ein?

Irgendwann wird die soziale- und wirtschaftliche Dimension der Krise Vorrang vor der medizinischen Dimension bekommen. Man kann nicht alle drei Monate so ein Rettungspaket auflegen und den wirtschaftlichen Stillstand immer weiter verlängern. Das hätte fatale Folgen für die Gesellschaft und könnte zu immensen sozialen Verwerfungen führen. Ich prognostiziere daher, dass, nimmt diese Diskussion an Fahrt auf, auch wieder kontrovers diskutiert wird und sich die Positionen der Parteien klarer unterscheiden werden. Latent hat die Debatte, wie man zu einer Exit-Strategie des verordneten öffentlichen Shutdowns kommt, längst begonnen.

Ist dann wieder die Zeit der Populisten gekommen?

Ja. Und der Oberpopulist Donald Trump hat das ja schon auf seine „unnachahmliche“ Art und Weise getan.

Inwiefern?

Trump war in die Defensive geraten. Sein naives Gerede und fatales Abwarten in der Corona-Krise hatten zur Folge, dass die Chancen der Demokraten, das heißt Joe Bidens, gestiegen sind die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Trump wechselt deshalb wieder in den Angriffsmodus, wenn er sagt, dass täglich mehr Menschen in den USA im Straßenverkehr sterben als an Corona. Doch würde niemand daran denken, das Autofahren zu verbieten. Ein echter Trump. Aber vor der Debatte, dass die Folgen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona schlimmer sein könnten als das Virus selbst, stehen auch wir in Deutschland.

Wird die Stimmung kippen? Und die Akzeptanz gegenüber den Regeln der Bundesregierung auch in Deutschland abnehmen?

Mittelfristig ja, denn irgendwann sind die Möglichkeiten des Staates, dagegen anzusteuern, ausgereizt. Man kann den Shutdown nicht beliebig verlängern und nicht alle drei Monate ein Paket von 150 Milliarden auflegen. Einmal geht das und man kann es aufgrund der ungewissen weiteren Verbreitung des Virus und dessen Folgen kommunizieren und rechtfertigen.

Sie haben mit Blick auf Corona Ihre Aussage beim Orakel 2020 korrigiert und sehen heute in CSU-Chef Markus Söder den nächsten Kanzlerkandidaten der Union. Er hat sehr früh und mit Nachdruck die Vorgaben der Virologen in Bayern umgesetzt. War sein Vorpreschen sinnvoll? Wird er sich umgekehrt auch wieder an die Spitze der Bewegung stellen, wenn es darum geht den Ausnahmezustand zurück zu drehen?

Das ist ein politischer Nebenschauplatz, aber ein interessanter. In der Tat gibt es nur noch zwei Kandidaten in der Union, die die Kandidatenfrage unter sich ausmachen werden. Söder und Laschet. Es war kein Zufall, dass gerade die beiden in der Schaltkonferenz aneinandergeraten sind bei der Frage, wie radikal die Politik im Umgang mit der Krise vorgehen muss. Söder bedient das Bedürfnis nach klarer Führung. Nach Stand heute wird Laschet nur die Rolle des CDU-Vorsitzenden bleiben.

Und die Sozialdemokraten? An Olaf Scholz als Kandidaten wird die SPD vermutlich nicht vorbeikommen, oder?

Scholz war nach seiner Niederlage bei der Wahl zum Parteivorsitzenden schon nahe daran, als Finanzminister zurückzutreten. Jetzt hat er mächtig an Statur gewonnen, weil er so schnell bereit war, so viel Geld in die Hand zu nehmen, um die schlimmsten wirtschaftlichen Verwerfungen aufzufangen und dabei auch die Kleinbetriebe mit ihren wenigen Beschäftigten nicht vergessen hat. Nur zum Vergleich: In den USA explodiert gerade die Arbeitslosigkeit. Dass er als Vizekanzler Merkel vertritt, die in Quarantäne geschickt wurde, profiliert ihn zusätzlich. Scholz dürfte in der Tabelle der populärsten Politiker viele Plätze gut gemacht haben und ist, wenn das Hilfspaket wirkt, nicht nur unbestritten der Kandidat der SPD, sondern kann auch der gebeutelten Partei insgesamt bei der Wahl helfen.

Sie haben gesagt, die Virologen entscheiden derzeit über den Weg der Politik. Ist das nicht auch einmal sympathisch? Politiker, die nicht für alles eine vermeintliche Lösung haben… Kann das nicht auch die Solidarität mit den politisch Verantwortlichen und deren Entscheidungen erhöhen?

Sympathisch ist hier nicht der richtige Maßstab. Das widerspricht unserer politischen Kultur und unserem Selbstverständnis. Es gilt gerade in Krisenzeiten das Mandat der Politik und die in der Verfassung festgeschriebene Verantwortung des Parlaments.

Welche Lehren müssen aus dieser Pandemie gezogen werden, die über den Tag hinaus Gültigkeit besitzen?

Diese Corona-Krise hat gezeigt, dass die Globalisierung Auswüchse erreicht hat, die zu weit gehen. Nur ein Beispiel: Im Bereich der Pharmabranchen und der medizinischen Ausrüstungen zeigt sich, wie abhängig wir mittlerweile von den weltweiten Lieferketten sind. Wir dürfen uns nicht mehr, nur um ein paar Cent bei den Kosten zu sparen, in eine umfassende Abhängigkeit von anderen Ländern wie China begeben. Das gleiche gilt für die Nahrungsmittelversorgung. Ich glaube, dass das jetzt alle verstanden haben. Wir sollten auch nicht so naiv sein, zu glauben, dass wir gerade die letzte Pandemie erleben, die sich über die Welt ausbreitet.

Welche Bereiche benötigen aus Ihrer Sicht noch einer besonderen Aufmerksamkeit?

Im Hinblick auf die Bildungseinrichtungen, die alle geschlossen wurden, brauchen wir einen Ausbau der Infrastruktur und einheitliche Standards bezüglich der digitalen Lehre, des sogenannten Tele-Teachings. Ich weiß, dass die TU Braunschweig hier schon sehr weit ist. Ich kenne aber auch Fälle, wo die Studierenden diese Möglichkeiten nicht besitzen. Meine generelle Antwort auf die Frage lautet: Der Staat muss überall da, wo es um die Grundversorgung der Bevölkerung geht, wieder mehr Zuständigkeit bekommen. In vielen Bereichen muss das neoliberale Denken, das auf Privatisierung gesetzt hat, zurückgedrängt werden.

Sind Sie davon überzeugt, dass die Corona-Krise über den Tag hinaus die Gesellschaft verändern wird?

Wir werden nicht zur Tagesordnung zurückkehren können, ohne beispielsweise über das Lohnniveau in den Branchen zu sprechen, die jetzt den Laden am Laufen halten. Pfleger und Pflegerinnen, Frauen im Supermarkt, die die Regale auffüllen, Polizisten, die die Einhaltung der Kontaktsperre kontrollieren…Ich könnte viele Berufsgruppen nennen. Diese Personen gehen zum Teil ein hohes persönliches Risiko ein, sich mit dem Virus anzustecken. Wir müssen hier im Vergleich zu Investmentbankern, die sich im Home-Office verschanzen, eine neue Balance der Vergütung finden.

Wie ist es um unsere Gesellschaft bestellt? Wird Corona womöglich helfen, wieder solidarischer miteinander umzugehen?

Ich glaube, das ist noch nicht absehbar. Ich sehe derzeit nicht, dass sich die Normalverteilung verändert hat. Wie so oft gibt es etwa fünf Prozent der Bevölkerung, die Aktionen starten, um anderen zu helfen. Und es gibt die egoistischen fünf Prozent am anderen Ende des Spektrums, die im Kleinen Klopapier hamstern oder im Großen Häuser kaufen, die zwangsversteigert werden, oder Firmen kaufen, deren Aktien im Keller sind. Die große Masse hält sich zwar an die Regeln, ist ansonsten aber eher passiv und abwartend. Es ist ein bisschen so wie bei der Einführung der Bio-Tonne. Diese wurde zwar sehr schnell akzeptiert, hat aber nicht dazu geführt, das sonstige Umweltverhalten zu ändern.

Wie lange glauben Sie, können Kontaktsperren oder Ausgangsbeschränkungen aufrechterhalten bleiben, ohne dass sich organisierter Widerstand regt?

Die größte gesellschaftliche Gruppe, insbesondere in den Großstädten, stellen ja mittlerweile die Single-Haushalte. Für diese Gruppe bedeutet eine Kontaktsperre ganz andere Entbehrungen als für Familien, bei denen sogar noch mehrere Generationen unter einem Dach wohnen. Auf die Dauer kann das zu einem echten Problem werden, das den Einsatz von Psychologen und Therapeuten verlangt. Aus meiner Sicht ist ein Punkt noch nicht so richtig ins öffentliche Bewusstsein gedrungen: Wie lange diese Maßnahmen andauern werden. Es reicht nicht, in den nächsten Wochen die Wachstumskurve der Infektionen abzuflachen, damit unser Gesundheitssystem den Ansturm an Erkrankten meistern kann. Wenn wir in ein paar Wochen wieder zur Tagesordnung übergehen würden, würde auch die Kurve der Infizierten wieder ansteigen. Wir müssen die Geduld aufbringen, mit den Einschränkungen zu leben, bis ein wirksames Medikament gefunden oder ein Impfstoff entwickelt wurde.

Wie wird Europa aus der Krise vorgehen? Geeinter oder noch viel zerstrittener?

Es hat sich gezeigt, dass Europa im Sinne eines gemeinschaftlichen Handelns kaum stattfindet. Das hat mit der politischen Konstruktion der EU zu tun. Der Rat aus den Regierungschefs hat das größere Gewicht als Kommission und Parlament. In der Corona-Krise zeigt sich die umfassende Renaissance des nationalstaatlichen Denkens und Handelns – eine Tendenz, die schon vorher zu erkennen war, wenn wir an den Brexit oder an die Haltung der osteuropäischen Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen denken. Abgeschwächt zeigt sich diese Tendenz in Deutschland sogar auf der Ebene der Länder und Kommunen.

Das klingt nach einem Abgesang...

Die einzige Institution der EU, die wirklich in Erscheinung tritt, ist die Europäische Zentralbank. Frau Lagarde muss in dieser Krise das Gleiche machen wie ihr Vorgänger Draghi, als es um die Bankenrettung ging – nämlich Staatsanleihen aufkaufen ohne Limit. Das Problem der EU ist schlicht, dass sie wenig eigenes Geld hat. Sie kann kaum Steuern erheben, sondern ist angewiesen auf die Mitgliedsbeiträge der Länder. Handlungsfähig als Gemeinschaft würde die EU nur, wenn ihr Finanzierungsmechanismus grundlegend verändert würde. In der Krise zeigt sich: Jeder ist sich selbst der nächste und überbietet sich in der Radikalität der Maßnahmen. Folge ist, dass die Fliehkräfte größer werden. Der Schengen-Raum ist faktisch tot und wird so bald nicht wieder geöffnet.

Und wenn in Leipzig Corona-Patienten aus Italien behandelt werden. Ist das Solidarität ohne Mehrwert?

Die geringen Fallzahlen sind reine Symbolpolitik und liefern schöne Geschichten. Es wird auf absehbare Zeit nicht so sein, dass alle europäischen Krankenhäuser für alle Europäer geöffnet werden. In Deutschland würde das sofort einen Sturm der Entrüstung auslösen und der AfD wieder Auftrieb geben. Die Zahlen, die jetzt veröffentlicht werden, zeigen, bei aller Vorsicht mit Blick auf die hohe Dunkelziffer, dass die Relation von Todesfällen zu registrierten Infizierten in Deutschland mit ganz großem Abstand nicht nur in Europa, sondern weltweit die geringste ist. Das ist ein Indikator für die hohe Leistungsfähigkeit der medizinischen Versorgung, gerade im Bereich der Intensivbehandlung, hierzulande. Die niedrige Relation schafft Vertrauen, das kein Politiker preisgeben wird.