Braunschweig. Die Braunschweigerin Heike Pfingsten-Kleefeld zeigt in ihrem Buch, wie sich Erfahrungen der Eltern auch in der nächsten Generation auswirken.

Therapeuten ist bekannt, dass psychische Folgen unverarbeiteter traumatischer Erlebnisse auch in nachfolgenden Generationen wirken können.

Das schreibt unsere Leserin Heike Pfingsten-Kleefeld aus Braunschweig

Zu diesem Thema recherchierte Katrin Schiebold

Im Sommer 2007 räumt Heike Pfingsten-Kleefeld ihre Garage aus. Gartentisch, Klappstuhl, Schneeketten – alles landet auf einem Haufen neben dem Tor. Auch die Kinderkarre soll auf den Sperrmüll, ihr Sohn ist mit seinen acht Jahren längst zu groß dafür. Doch sie bekommt Panik. „Was ist, wenn wir mal fliehen müssen?“, denkt sie. Ihr Kind könnte sich in die Karre setzen, wenn es erschöpft ist. Ein absurder Gedanke, Heike Pfingsten-Kleefeld ist sich dessen bewusst – und doch kann sie sich nicht dagegen wehren.

Vier Jahre später hält sie einen Flyer mit einer Seminar-Ankündigung in der Hand. „Immer noch auf der Flucht?“, lautet der Titel. „Wie sich die Kriegs- und Fluchterlebnisse der Eltern auf ihre Kinder auswirken.“ Sie meldet sich an. „Ich habe dort Menschen getroffen, denen es so geht wie mir“, sagt sie. „Ich fühlte mich nicht mehr als Alien.“

Heike Pfingsten-Kleefeld, Jahrgang 1961, sitzt in ihrem Wohnzimmer in Braunschweig und erzählt von diesem Schlüsselerlebnis – dem Moment, als ihr klar wird, dass ihre Angst vor Flucht und Krieg eine vererbte Angst ist. An der Wand hängen Fotos von ihrer Familie, Bilder in Schwarz-Weiß und in Farbe, mehrere Generationen auf Papier gebannt. Ihr Vater ist während des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen geflohen, aber darüber wird kaum gesprochen, auch die Kriegserlebnisse ihrer Mutter, im Westen aufgewachsen, sind bei ihr zuhause oder bei Familientreffen kein Thema. „Viele Kriegskinder sind traumatisiert, sie haben schreckliche Dinge erlebt, aber sie hatten niemanden, mit dem sie darüber reden konnten“, sagt Heike Pfingsten-Kleefeld. „Sie mussten ihre Gefühle wegsperren.“ Und das habe Auswirkungen auch auf die nächste Generation, die Generation der Kriegsenkel.

Der Austausch mit anderen hat Heike Pfingsten-Kleefelds Sicht auf ihre Eltern, aber auch auf ihre eigenen Gefühle und Gedanken verändert. Inzwischen hat sie zusammen mit 30 Kriegsenkeln ein Buch veröffentlicht: „Kriegsenkelgefühle.“ Erzählungen und Gedichte über Sehnsucht, Wut und Wagemut. Darin beschreibt sie etwa, warum über ihrem Kopf ein UKO schwebt, ein „Unbekanntes-Katastrophen-Objekt“, die Angst vor etwas Neuem ein ständiger Begleiter ist. „Meine Eltern machten wie viele Kriegskinder die bittere Erfahrung, dass jede Freude abrupt zu Ende sein kann“, erklärt sie. Ist sie als Kind fröhlich, weil sie etwas Schönes in Aussicht hat, kommt schnell der mahnende Satz der Mutter: „Freu Dich bloß nicht zu früh!“ Kriegskinder rieten ihren Kindern davon ab, Risiken einzugehen, schreibt Heike Pfingsten-Kleefeld. Sei es beruflich oder privat. „Die Kriegsenkel hörten kein ,Wer wagt, gewinnt’, sondern oft ein bremsendes ,Sei auf der Hut!’ Wer so aufwuchs, sei nicht fröhlich und mutig zu neuen Ufern aufgebrochen. Der habe lieber die Sparkasse oder den öffentlichen Dienst als Arbeitgeber gewählt als das Theater. Sie selbst machte ihr Diplom in Sozialpädagogik.

Bis heute gehen ihre Eltern emotionalen Themen aus dem Weg, Gespräche drehen sich um unverfängliche Themen: das Auto, die Nachbarn, das Wetter. Auch körperliche Nähe gibt es kaum. Die Eltern mussten als Kriegskinder hart sein, verdrängen, funktionieren. Und die Kriegsenkel dürfen keine negativen Gefühle haben, weil es ihnen doch gut geht. „Wir hatten zu essen, anzuziehen und ein Dach über dem Kopf, außerdem Zugang zu Bildung“, sagt Heike Pfingsten-Kleefeld. „Wir hatten die Pflicht zum Erfolg.“

Im Buch blickt sie auf ihre Kindheit zurück. Ein Auszug:

„Dunkelgrüne Dickblattgewächse und dunkelgraue Seelen auf dunkelbraunen Sofas. Schönheit ist bunt. Bei uns war es trist. Keine Farbe durch Freunde. Dunkelgrauer Ernst am Esstisch. Schönheit ist Leichtigkeit. Bei uns war es schwer. Keine Flügel am Rücken, sondern Regelwerke auf den Schultern.“

Sie teilt die Erfahrung mit anderen Kriegsenkeln: Nach außen gilt es, das Bild einer gut funktionierenden Familie zu wahren. „Wir Kriegsenkel haben von klein auf gemerkt, dass unsere Eltern belastet sind und versucht, sie zu schützen“, sagt Heike Pfingsten-Kleefeld. So lernt auch sie, die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, legt auch sie einen Deckel auf ihre Gefühle. Und darunter verborgen: eine Schwere, die Angst zu scheitern und immer das Gefühl im Nacken, dass etwas schiefgehen könnte.

Auch während der drei Jahre, in denen sie die Idee zu ihrem Buch umsetzt, sind Zweifel ihre ständigen Begleiter. Immer wieder kommen Fragen auf: Wie wird ihre Familie das Buch aufnehmen? Bin ich illoyal ihr gegenüber? Bekomme ich deswegen Streit mit ihr? Doch sie überwindet ihr Zaudern.

Als sie Anfang dieses Jahres schließlich ihren Eltern das Buch mit einer liebevollen Widmung überreicht, reagieren diese zurückhaltend. Es gibt kein großes Lob, keine Fragen, keine Kommentare zum Inhalt. Doch Heike Pfingsten-Kleefeld spürt, dass sie auch stolz auf ihre Tochter sind.

Für sie hat sich durch das Projekt viel geändert. Sie hat übernommene Ängste symbolisch an ihre Eltern zurückgegeben. Hat gelernt, achtsamer mit den eigenen Bedürfnissen umzugehen, auch mal den Deckel auf ihren Gefühlen zu heben, wie sie sagt: „Für mich war es entscheidend, sie – anders als früher – wahrzunehmen, ernst zu nehmen und sie als Wegweiser für meine nächsten Schritte zu nutzen.“

Heike Pfingsten-Kleefeld (Hrsg.): Kriegsenkelgefühle, Verlag „Worte und Leben“, Braunschweig, 205 Seiten, ISBN: 978-3-9818549-2-3