Braunschweig. Der frühere Wolfsburger Oberbürgermeister Rolf Schnellecke wird an diesem Donnerstag 75 Jahre alt. Im Interview blickt er auf seine Karriere zurück.

Wolfsburgs ehemaliges Stadtoberhaupt hat Grund zu feiern: Rolf Schnellecke feiert heute seinen 75. Geburtstag. Im Interview mit Chefredakteur Armin Maus und Redakteur Hendrik Rasehorn spricht Schnellecke über seinen Werdegang, die politische Situation in Deutschland und die Zukunft der Logistikbranche. Julia Popp schrieb das Interview auf.

Herr Professor Schnellecke, mit welchem Gefühl gehen Sie in den heutigen Tag?

Mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Es ist nicht selbstverständlich,
75 Jahre alt zu werden. Das Leben hat es gut mit mir gemeint, weil ich diesen Tag gesund und mit einem klaren Kopf erlebe. Eine Zäsur stellt dieser Geburtstag für mich nicht dar. Es kommt doch weniger auf die Zahl an, sondern wie fit man ist, inwieweit man am Leben teilnehmen kann. Ich hoffe, dass ich noch ein Stück des Weges vor mir habe.

Sie haben viele Dinge bewegt: Es begann mit der Übernahme des elterlichen Betriebs in jungen Jahren, es folgte der Aufbau zu einem Unternehmen von Weltgeltung, schließlich übernahmen Sie das Amt des Oberbürgermeisters Ihrer Geburtsstadt Wolfsburg. Was ist Ihnen in diesem langen Leben am nächsten, was beschäftigt Sie emotional am stärksten?

Ich bin in das kleine Unternehmen, das meine Mutter führte, hineingewachsen. Das hat mich Zeit meines Lebens begleitet, auch wenn ich öffentliche Ämter bekleidet habe. Jetzt schließt sich der Kreis: Als Aufsichtsratsvorsitzender bin ich wieder für das Unternehmen tätig. Dafür bin ich dankbar.

Das soll nicht die Bedeutung meiner 40 Jahre im öffentlichen Dienst mindern. Dies war eine Zeit, die mich geprägt und mein Leben ungemein bereichert hat. Sicherlich: Es gab Zeiten und politische Angriffe, die man sich nicht wünscht. Dennoch machten mir die Aufgaben Freude. Unterm Strich hat sich die Arbeit im öffentlichen Dienst und im Unternehmen gegenseitig befruchtet. Ich konnte in der Verwaltung meine Erfahrungen aus dem unternehmerischen Bereich einbringen. Und als Unternehmer wusste ich, wie Staat und Kommune funktionieren.

Manch einem würde eine Karriere reichen, Sie haben zwei gemacht. Konnten oder wollten Sie sich nicht für eine Sache entscheiden?

Meine Staatsexamina habe ich in Hamburg absolviert, doch aus Verantwortung für das Familienunternehmen bin ich nach Wolfsburg zurückgekehrt. Hätte ich frei entscheiden können, wäre der Weg anders verlaufen. Das Nebeneinander kostete mich manchmal viel Kraft. Meist haben sich beide Bereiche aber gut ausgeglichen. Und ich behielt immer meine Unabhängigkeit, das war mir wichtig.

Was war denn Ihr berufliches Ziel?

Ich wollte immer Jurist werden, schon als Schüler. Meine Promotion blieb ein Stück auf der Strecke, als die Firma mich brauchte – da war
ich ja noch Student. Eigentlich wollte ich Wirtschaftsanwalt werden. Dann kam der Ruf der Stadtverwaltung, wo ich als Referendar einige Zeit verbrachte. Der damalige Oberstadtdirektor Werner Hasselbring suchte seinen persönlichen Referenten und fragte mich. Ich dachte:
Es kann ja nicht schaden, mach
das mal für kurze Zeit. Daraus wurde eine Karriere im öffentlichen Dienst.

Stammen Sie aus einer politischen Familie?

Mein Vater war Kaufmann aus Braunschweig. Meine Mutter stammte aus Westfalen und war Sozialpädagogin. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, politisch tätig zu sein. Ich brauchte lange Zeit, um in eine Partei einzutreten. Erst 1990, als die Wende kam und Oskar Lafontaine gegen die Wiedervereinigung war, dachte ich: Jetzt muss Farbe bekannt werden.

Sind Sie aus Sympathie für das sehr entschlossene Eintreten Helmut Kohls für die deutsche Einheit in die CDU eingetreten?

Ja, aus Überzeugung. Die Situation in Deutschland verlangte, dass man sich dahinter stellte. Ich war niemals Parteisoldat, der sich von unten hochgearbeitet hat.

Sie waren von 1990 bis 1992 Leiter des Aufbaustabes für die Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt. Was sagt der Aufbauhelfer Rolf Schnellecke zu den jüngsten Wahlergebnissen in Sachsen und Brandenburg?

Es ist das Ergebnis breiter Unzufriedenheit, das macht mich besorgt. Ja, es gibt im Osten Gegenden, da blüht es nicht so, vor allem in ländlichen Bereichen. Aber da könnte ich auch Gegenden in den alten Bundesländern nennen – hier bei uns muss auch der Westharz kämpfen. Wenn ich in den neuen Bundesländern unterwegs bin, ist dort die Infrastruktur zum Teil besser als im Westen. Das Gejammer nützt nichts. Es muss politisch mit hoher Aufmerksamkeit daran gearbeitet werden, dass keine Regionen abgehängt werden. Da muss es besondere Anstöße geben, um wirtschaftliche Aktivitäten zu kreieren. Es ist nicht Gott gegeben, dass es überall brummt.

Gelsenkirchen, zum Beispiel, Teil des industriellen Herzens der Republik…

Wenn ich in diese Städte fahre, werde ich schon sehr nachdenklich. Es braucht vielleicht noch mehr Zeit, die innere Einigung Deutschlands zu vollziehen. Womöglich packt es die jüngere, die nächste Generation, also die, die nicht mehr vorbelastet ist aus der alten Zeit und sich nicht vernachlässigt fühlt. Sie konnte mit gleichen Chancen starten. Politisch müssen wir aber aufpassen, dass Unzufriedene nicht in ein Sammelbecken geraten, das eher rückwärtsgewandt ist und an schlimme Zeiten Deutschlands erinnert.

Woher kommt diese Zuwendung zu diesem „Sammelbecken“ und die Abwendung von allen anderen – inklusive der Linkspartei, der man ja unterstellen möchte, dass sie als Nachfolgerin der SED und der PDS Wurzeln in der ostdeutschen Volksseele hat?

Gewisse Verführer sind am Werk, die mit einfachen Parolen locken. Hoffentlich ist das keine Dauererscheinung. Die Situation wird sicherlich angestachelt durch die Diskussion um Migration, obwohl in diesen Regionen kaum Einwanderer aufzufinden sind. Trotzdem glaube ich, dass damit ein Unbehagen, eine Sorge, eine Zukunftsangst verbunden ist, die sich nun im Wahlverhalten festmacht.

Durch Ihre Arbeit sind Sie weltweit herumgekommen. Welches Bild hat die Welt von Deutschland?

Für mich ist das immer wieder erstaunlich, denn in der ganzen Welt schauen einen die Leute mehr oder weniger fassungslos an und sagen: Eure Sorgen möchten wir haben! Deutschland ist für fast den Rest der Welt ein Land des Erfolges, des Wohlstandes, der Sicherheit, der Ordnung. Also ein Vorbild in jedweder Weise. Das wissen wir in der Art und Weise gar nicht zu schätzen. Trotzdem ändert das nichts an
der Tatsache, dass wir daran arbeiten müssen, Dinge besser zu machen.

In Ihrer Amtszeit hat sich Wolfsburg stark verändert. Viele Projekte sind umgesetzt worden, zu denen andere Kommunen nicht den Mut gehabt hätten – zum Beispiel Allerpark oder Phaeno. Fehlt unserem Land der Mut, sich für eine gute Idee, ein tolles Konzept einzusetzen? Ist politischer Mut zur Mangelware geworden?

Ja, allerdings sind die Risiken von Öffentlichkeitsschelte und Misserfolg gewachsen. Unser Land ist schwerfällig geworden und die Zeit für mutige Entscheidungen wird immer schwieriger. Wir regeln, kritisieren und lamentieren viel. Ich glaube, ohne die Krise der Stadt Wolfsburg Mitte der 1990er Jahre, in der es um existenzielle Zukunftsängste ging, hätten wir diese Bereitschaft zu Neuem nicht erreichen können. Das war eine besondere Zeit, eine Sternstunde der Stadtentwicklung.

Nochmal: Ich glaube in Deutschland werden wir immer mehr zu Bedenkenträgern. Wir sind ein Industrieland – wir müssen agil und flexibel sein. Wir müssen aufpassen, dass wir uns in unserem Drang nach Überregelung und Perfektion nicht selbst lähmen und so in der Weltwirtschaft zurückfallen. Wir machen uns vieles, und da spreche ich auch als Mann der Wirtschaft, wirklich überzogen schwer.

In Ihrer Amtszeit als Oberbürgermeister gab es ein geflügeltes Wort: Rolf Schnellecke führt diese Stadt wie ein Unternehmen. Ist das ein Rezept, das Sie empfehlen?

Ich war Gegner des Behördendenkens und habe versucht, unsere Rathausmannschaft auf den Kunden, den Bürger, einzuschwören. Ich gab damals das Motto aus: Es geht nicht darum, dass etwas nicht geht, sondern, wie es geht, dass es geht. Das haben sich die Mitarbeiter gemerkt. Viel Zeit wurde damals für Begründungen verschwendet, warum ein Begehren des Bürgers abgelehnt werden muss, statt zu helfen. Die Botschaft, nicht der Beamte ist König, sondern der Bürger steht im Zentrum, war mir ein wichtiges Anliegen.

Ihr früherer Braunschweiger Kollege Gert Hoffmann hat in seiner Biografie die Anekdote berichtet, Ferdinand Piëch habe Sie in die Pflicht genommen, Oberbürgermeister von Wolfsburg zu werden. Ist da was dran?

Das war so. Nach sechs Jahren als Oberstadtdirektor wollte ich im Grunde aufhören und mich auf mein Unternehmen konzentrieren. Dann wurde über Peter Hartz die Bitte von Volkswagen an mich herangetragen, dass es wichtig sei, weiterzumachen.

Mit Ferdinand Piëch ist kürzlich ein Mitgestalter Wolfsburgs gestorben. Das Bedauern der einfachen Leute wirkt sehr ehrlich. Was war Piëch für Sie und für Wolfsburg in diesen Jahren?

Für mich war Ferdinand Piëch ein Mann von großer strategischer Weitsicht, ein Mann, der wusste, was er wollte, aber auch ganzheitlich dachte. Er war ein Mann, der Verantwortung übernahm. Ganz persönlich ist er mir ein hoch verlässlicher und ein sehr nahe stehender Partner geworden. Ich wusste: Wenn ich mit Anliegen für Wolfsburg, für die Menschen dieser Stadt komme, dann habe ich immer ein offenes Ohr bei ihm. Das war wirklich ein großes Vertrauen beiderseitig, und das hat mich bis zu seinem Tode begleitet.

Viele haben immer wieder die Frage gestellt: Wie kann ein Oberbürgermeister von Wolfsburg zugleich ein Unternehmer sein, der in intensiver Beziehung mit dem Monolith VW steht. Was ist im Rückblick Ihre Antwort auf diese Frage?

Das war schon schwierig. Ich war lange Zeit in Hannover in der Staatskanzlei und bekam mehrfach Angebote, Minister zu werden. Das habe ich immer zurückgewiesen, weil mir klar war, dass ich mich vom Unternehmen nicht freimachen kann. In Wolfsburg habe ich gerade deshalb extreme Sorgfalt darauf verwendet, die Sphären zu trennen. Ich hatte eine Geschäftsführung und Vorstände – es gab nichts, was man mir vorwerfen konnte. Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass der gerade Weg der richtige ist.

Das Andenken Ihrer Mutter ist durch die Margarete-Schnellecke-Stiftung täglich präsent.

Meine Mutter, die ja 100 Jahre alt geworden ist, war mir immer ein Vorbild und eine hervorragende Ratgeberin. Das versuche ich jetzt weiterzugeben. Die Firma leite ich ja nicht mehr persönlich, aber mit Rat und Erfahrung kann ich noch helfen.

Als Familienunternehmer kennen Sie die Schwierigkeiten, die das Thema der Nachfolge vielen Betrieben bereitet. Das Problem haben Sie in Ihrer Firma nicht.

Ich bin dankbar, dass auch die dritte Generation im Unternehmen vertreten ist und ich da beruhigt sein kann. Mein Schwiegersohn, mein Neffe und mein Sohn sind dabei. Auch meine Mutter war darüber froh, als sich dies anbahnte.

Vergangenes Jahr sind Sie in die „Logistics Hall of Fame“ aufgenommen worden. In den Lobreden wurde gesagt, dass das sehr viel mit der Innovation zu tun hat, die Ihr Unternehmen in die Automobilbranche gebracht hat – nämlich, das logistische Aufgabenfeld in die Prozesskette hinein zu erweitern. Ihr Unternehmen war das erste, das nicht nur Logistik-, sondern auch Fertigungspartner geworden ist – heute der Industriestandard. Was glauben Sie, wie geht es in der Automobil- und der Logistikbranche weiter?

Wir sind mitten in der industriellen Revolution 4.0, auch unser Unternehmen ist da längst involviert. Die Automobilindustrie ist mit führend in diesem Prozess. Man muss sich mit Mut und Offenheit den neuen Herausforderungen stellen und Lösungen schaffen. Die Landschaft verändert sich völlig, auch in unserem Gewerbe. in den logistischen Versorgungsprozessen, in der durchgängigen Datenbehandlung, mit Robotik und autonomen Fahrzeugen. Als mittelständischer Partner großer Konzerne müssen wir mitgehen. Wir sind da gut und zukunftsfähig aufgestellt und auch ich versuche, offen zu bleiben für diese neue Welt, die ja nicht aufzuhalten ist.

Wird es nun mit 75 langweilig für Rolf Schnellecke?

Ich habe noch genügend Aufgaben, die mir Spaß machen – als Aufsichtsratschef, im Wirtschaftsrat in Berlin, als Vorsitzender des Beirates Familienunternehmen, in verschiedenen Stiftungen, im Aufsichtsrat des VfL. Und meine Frau und ich wollen weiter die Welt erkunden. So Gott will: Langweilig wird es sicher nicht.

Zur Person:

Rolf Schnellecke wurde 1944 in Wolfsburg geboren. Nach dem Abitur in Wolfsburg studierte er Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Göttingen und Hamburg.

Schnellecke war ab 1995 Oberstadtdirektor und von 2001 bis 2011 Oberbürgermeister der Stadt Wolfsburg.

Im Jahr 2014 erhielt Rolf Schnellecke außerdem die Ehrenbürgerwürde der Stadt Wolfsburg.