Berlin. Manfred Matthies saß mehrere Jahre im Stasi-Gefängnis. Die Zukunft-Bilden-Teilnehmer beeindruckte sein Vortrag.

Ganz selbstverständlich haben sich die Auszubildenden auf das mit Stahlgittern durchzogene Stück Betonmauer gesetzt, gleich neben dem Steinweg, inmitten der sattgrünen Rasenfläche. Ob sie wüssten, welche Dinge um sie herum einmal zur Berliner Mauer gehört haben, möchte Isabelle Eberhard von den jungen Leuten wissen.

Die 31-Jährige von der Stiftung Berliner Mauer führt Auszubildende aus Niedersachsen an diesem Tag über das Gelände der Gedenkstätte an der Bernauer Straße.

An einer rund 15 Meter langen Stahlwand in der Gedenkstätte Bernauer Straße hängen die Bilder von 140 Maueropfern.
An einer rund 15 Meter langen Stahlwand in der Gedenkstätte Bernauer Straße hängen die Bilder von 140 Maueropfern. © Marius Klingemann

Die Auszubildenden schauen sich um, und ihre Augen werden größer. Das graue Stück Beton, auf dem sie sitzen, war einst Teil des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie man die Mauer in der damaligen DDR nannte. Statt des weichen Grases befand sich östlich der Bernauer Straße zwischen 1961 und 1990 ein mehrere Kilometer langer, karger Sandstreifen, durchzogen von tödlichen Fallen: Stolperdrähte, Hundelaufleinen, zwei Mauern aus glattem Beton – die vordere knappe drei Meter hoch – und allen voran die DDR-Grenzsoldaten sollten eine Flucht in den Westen unmöglich machen. Viele Menschen haben es trotzdem versucht – 140 von ihnen kamen an der Mauer ums Leben, 8 davon waren DDR-Grenzsoldaten.

Aus einem Lautsprecher ertönen die Namen der Opfer. Eine 15 Meter lange Wand aus rostbraunem Stahl gibt den Schicksalen ein Gesicht: In zettelgroßen Aussparungen finden sich Bilder der Getöteten. Die Auszubildenden tasten sich langsam heran. Erst zaghaft, dann entschlossen. Das Lächeln in ihren Gesichtern erstarrt. Was bleibt ist Betroffenheit.

Nicht alle der 140 Maueropfer seien jedoch bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen, erzählt Eberhard. Und nicht alle seien aus Ostdeutschland gekommen. Ein fünfjähriger Junge aus Kreuzberg etwa sei bei dem Versuch ertrunken, seinen in die Spree gefallenen Ball zu bergen.

Herbeigeeilte Rettungskräfte hätten ihm nicht helfen können, da das Gewässer zum Grenzstreifen – und damit zur DDR – gehörte. Als sie bei den Grenzern Alarm geschlagen hätten, sei es bereits zu spät gewesen, berichtet Eberhard.

Schicksale wie dieses habe es viele gegeben. Manch ein Fluchtversuch sei aber auch erfolgreich gewesen. Die 78-jährige Pia Schulze etwa sei im September 1961 durch einen Sprung aus der ersten Etage in den Westen entkommen. Eberhard zeigt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von jenem Tag.

Sie zeigt zahlreiche Westdeutsche, die vor dem Haus in der Bernauer Straße mit der alten Frau mitfiebern. Die Feuerwehr, die mit einem Sprungtuch passiv Fluchthilfe leistet. Und einen Mitarbeiter der Staatssicherheit, der versucht, Schulze wieder zurück ins Haus zu ziehen. Vergeblich.

In der Folge habe die Staatsführung der DDR reagiert: Zunächst seien sämtliche Häuser geräumt und die Fenster zugemauert worden. Später habe man die Gebäude sogar ganz abgerissen. An ihre Stelle folgte die Mauer. In den folgenden gut
30 Jahren wurde der Grenzstreifen dann immer weiter ausgebaut – bis er im November 1989 fiel.

Erinnerungen an die Einsamkeit

Mit dem Kopf zur Wand – so mussten sich die Gefangenen aufstellen, bevor es zurück in die winzigen, spartanischen Zellen ging.
Mit dem Kopf zur Wand – so mussten sich die Gefangenen aufstellen, bevor es zurück in die winzigen, spartanischen Zellen ging. © Christoph Exner

Ein paar Stunden später an diesem Tag scheint es so, als sei die ganze Welt in eine unheimliche Stille verfallen. Manfred Matthies schreitet andächtig durch den früheren Vernehmungstrakt der zentralen Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit (Stasi) in Höhenschönhausen, links und rechts von ihm schwere Türen und trostlose Räume als stumme Zeugen einer dunklen Zeit. Die jungen Auszubildenden, die der mittlerweile 79-Jährige durch die heutige Gedenkstätte führt, halten respektvoll Abstand.

Doch langes Schweigen ist nicht Matthies’ Sache: „Ich möchte ein Gefühl vermitteln, wie es hier war.“ Neun Monate lang saß der gebürtige Magdeburger von Dezember 1972 an als Fluchthelfer in Hohenschönhausen in U-Haft – den nach „typischem DDR-Muff“ riechenden Vernehmungstrakt hat er dabei zu Genüge kennen gelernt.

„In diesem Gefängnis waren viele Leute mit einer ähnlichen Vorgeschichte inhaftiert“, erzählt Manfred Matthies, der selbst 1959 aus der DDR flüchtete und zwischen 1964 und 1972 „mehr als 60 Personen“ – zwischen Rückbank und Kofferraum versteckt – per Auto in den Westen holte, bevor er schließlich an einer Grenzstation in Berlin-Mitte erwischt wurde.

Gesehen habe er während der Zeit in Hohenschönhausen jedoch keinen seinen Leidensgenossen: „Man war hier schrecklich allein, das hat natürlich auch an mir genagt.“

Ein Eimer als „Badezimmer“, ein Holzbrett als Bett – in einer nicht einmal vier Quadratmeter kleinen Zelle musste Manfred Matthies neun Monate lang in Dunkelheit ausharren.
Ein Eimer als „Badezimmer“, ein Holzbrett als Bett – in einer nicht einmal vier Quadratmeter kleinen Zelle musste Manfred Matthies neun Monate lang in Dunkelheit ausharren. © Christoph Exner

Im Vernehmungstrakt mussten die Gefangenen stets mit dem Kopf zur Wand stehen, die videoüberwachten Gänge durften nur betreten werden, wenn das kleine Signallicht auf Grün stand. Manfred Matthies berichtet von perfiden Verhörmethoden („Die Stasi-Beamten wussten beinahe alles über einen“) und tagelanger Dunkelheit in seiner fensterlosen Zelle mit der Nummer 113.

Das Schlüsselgeräusch im Schloss, wenn einer der Wärter hereinkam, hat der Ex-Häftling noch deutlich im Kopf. „Zu Hause ist bei mir bis heute keine einzige Tür verschlossen“, sagt er. Matthies schildert seine Erlebnisse eindringlich, es ist eindeutig zu erkennen, dass sie ihn nach wie vor beschäftigen. Das bemerken auch die Braunschweiger Auszubildenden, die im Laufe der Führung nach und nach ihre Zurückhaltung ablegen und Fragen stellen.

Ob er wusste, wo genau er war? Das kann Matthies klar verneinen. Wie lange hätte seine Untersuchungshaft maximal dauern können? „Da gab es in der DDR nach oben keine Grenze.“ Neun Monate waren es bei Matthies, dann wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt, von denen er fünf absaß. Ihm gelang die Rückkehr nach West-Berlin, wo er auch heute noch lebt.

Das Land, dem er zum wiederholten Male den Rücken kehrte, sei in ihm jedoch „nach wie vor lebendig“. Zum Abschluss des knapp 90-minütigen Rundgangs führt Matthies seine Gäste in einen der sogenannten „Tigerkäfige“, wie die Insassen die engen Freiganghöfe, von denen es insgesamt 12 gab, nannten.

In einem solchen Verhörzimmer wurde auch Fluchthelfer Matthies verhört – häufig mit perfiden Methoden.
In einem solchen Verhörzimmer wurde auch Fluchthelfer Matthies verhört – häufig mit perfiden Methoden. © Christoph Exner

30 Minuten pro Tag durfte man hier ab einem bestimmten „Haftstatus“ unter strenger Bewachung verbringen – Stehenbleiben, Sprechen oder Singen waren dabei untersagt. „Ich habe es trotzdem genossen, mal an die frische Luft zu kommen“, erzählt Matthies.

Mehrfach sei es vorgekommen, dass Flugzeuge der amerikanischen Air Force über das Gefängnis flogen – er habe dann stets freudig gen Himmel gewunken, worauf der Hofgang abgebrochen worden sei. „Das war ja schließlich versuchte Feindaufnahme“.

Manfred Matthies’ Lachen klingt erheitert, gleichzeitig aber auch bitter.