Goslar. Sigmar Gabriel ist der neue Vorsitzende der Atlantik-Brücke. Er sorgt sich um das Verhältnis zu den USA. Und um die SPD, erzählt er im Interview.

Sigmar Gabriel hat viel erlebt in seiner politischen Laufbahn. Über sein neues Ehrenamt, den Vorsitz der Atlantik-Brücke, und die SPD, sprach er mit Andre Dolle.

Sie sind der neue Vorsitzende der Atlantik-Brücke, des Vereins, der seit 1952 versucht, deutsch-amerikanische Beziehungen zu vertiefen. Sie könnten sich als Ex-Außenminister auch mit anderen Staaten beschäftigen. Wieso Amerika?

Ich gehöre einer Generation an, die zwar manchmal sehr kritisch mit amerikanischer Politik umgegangen ist. Denken Sie nur an die Interventionen in Vietnam, Chile und Nicaragua oder später den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak. Wir wussten aber immer, dass wir Westdeutschen unsere Freiheit den Amerikanern zu verdanken hatten. Wären die Söhne amerikanischer Eltern nicht in der Normandie gelandet, um für ein freies Europa zu Tausenden zu sterben, wären wir unter den Nachfolgern von Hitler oder Stalin groß geworden. Es gibt also ein emotionales Verhältnis zu den USA.

US-Präsident Trump ignoriert jedoch gerade die langjährigen Alliierten Amerikas.

Ja, das ist der große Unterschied zu all seinen Vorgängern. Eigentlich will er nicht Partnerschaft, sondern Gefolgschaft. Mit den bescheidenen Mitteln der Atlantik-Brücke dabei zu helfen, das wieder zu verändern, ist eine große Aufgabe.

Wie erleben Sie das Amerika Donald Trumps heute?

Ich erlebe es gespalten. Ich war gerade drüben, fahre bald wieder hin. Ich habe einen Lehrauftrag an der Universität Harvard. Es gibt das Amerika der Moderne, das Amerika, das nach vorne blickt und optimistisch ist, das Amerika der jungen Einwanderer aus Lateinamerika, aus Asien und Afrika sowie der traditionellen Freunde Europas. Aber es gibt auch die andere Seite, die Trump nicht nur in der Vorstellung folgt, dass es keine Verbündeten braucht, sondern auch in seiner Politik der harten Konfrontation in der Innenpolitik. Für sie ist dieser Multimilliardär paradoxerweise ein Symbol ihres Kampfes gegen die verhassten Eliten in Washington. Schon Obama wurde Präsident, weil er aus Chicago kam und schwarz war: auch ein Symbol gegen die Eliten in der Hauptstadt. So tief gespalten wie jetzt, habe ich die USA aber noch nie erlebt.

In der Außenwirkung vermittelt Trump den Eindruck, als bilde Europa eine Verschwörung gegen die Interessen der USA. Wie kann man mit so einem zusammenarbeiten?

Ich habe ihm einmal bei einer Begegnung in Deutschland gesagt, er solle doch mal in den Marshall-Room des Weißen Hauses schauen. Das ist ein kleiner Raum, in dem die kurze Rede von Ex-Außenminister George Marshall hängt. Er hat den Marshall-Plan begründet, der zum Wiederaufbau Europas geführt hat. Daran kann man letztlich sehen, dass Europa eine Erfindung der Amerikaner ist und keine Verschwörung gegen sie. Und selbst knallharte Trump-Befürworter sagen im Gespräch, Europa sei der wichtigste Verbündete der USA, Deutschland der beste Partner. Es ist doch interessant, dass trotz Trump die Zustimmung in den USA für Deutschland und Europa gewachsen ist. In Deutschland ist sie natürlich dramatisch gesunken.

Wie kann sich das Verhältnis denn wieder verbessern?

Man muss sich erst einmal davon lösen, zu glauben, alles hänge an Donald Trump. Amerika hat sich schon vor Trump sehr gewandelt. Denn die wirtschaftlichen und politischen Machtachsen verlaufen nicht mehr im Atlantik, sondern im Pazifik. Nicht mehr Russland ist der große Wettbewerber und Antipode der USA, sondern China. Amerika ist pazifischer geworden und weniger europäisch. Die USA werden aber nie mehr so, wie sie einmal waren. Aber sie werden sicher auch nicht so bleiben, wie heute unter Donald Trump. In wenigen Jahren wird die Mehrheit der Amerikaner keine europäischen Wurzeln mehr haben, sondern lateinamerikanische, asiatische und afrikanische. Dieses neue und junge Amerika kennen wir kaum, weil wir meistens nur nach Boston, Washington und New York fliegen und dort die alten Freunde Europas treffen. Das wird nicht reichen. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass Deutschland und Europa ein großes Programm auflegen und jedes Jahr 1000 High Potentials unter 40 Jahren aus den USA – aus den Universitäten, der Politik, den Unternehmen, den Medien – einladen, um ihnen unsere Heimat zu zeigen. Die Amerikaner machen das schon seit Mitte der 40er Jahre mit uns. Umgekehrt machen wir das leider nicht.

Trump hat einen Dänemark-Besuch abgesagt, weil die Dänen zu erkennen gegeben haben, dass sie Grönland nicht verkaufen wollen. Die Dänen haben die Reaktion Trumps als „Witz“ bezeichnet. Zu Recht?

Es wäre ja toll, wenn es nur ein Witz wäre. Trump sieht in der Frage Grönlands nur einen Immobiliendeal, eine Frage des Preises. Ich bin ehrlich gesagt sprachlos über so einen Umgang unter Verbündeten.

Vielleicht will er ja noch die Insel Rügen kaufen, weil er die Kreidefelsen so schön findet.

Trump ist eine Art Toyota-Präsident: Nichts ist unmöglich. Übrigens auch im Guten, denn dass er den Mut hatte, nach Nordkorea zu reisen und mit dem dortigen Diktator über das Ende der atomaren Bewaffnung der koreanischen Halbinsel zu verhandeln, war mutig. Auch wenn das bislang keinen Erfolg hatte, muss man ihm Respekt für diesen unkonventionellen Schritt zollen.

Sie haben bei Ihrer Antrittsreise in den USA vor wenigen Tagen Ex-US-Außenminister Henry Kissinger getroffen. Was lässt sich von einem wie ihm lernen?

Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Wir schätzen uns sehr. Kissinger hat über einen gewaltigen Zeitraum internationale Politik beobachtet und auch gestaltet. Ich habe ihn gefragt, wie er zum Handelsstreit zwischen den USA und China steht. Wir sind gerade dabei, in eine G2-Welt einzutreten, in der die großen Antipoden nicht mehr die USA und Russland sind, sondern die USA und China. Kissinger ist ein großer China-Kenner. Er hat damals US-Präsident Nixon den Weg nach China geebnet. Die Chinesen denken in langen Linien. Man muss eigene Strategien entwickeln. Was nun passiert, ist laut Kissinger allerdings eine Tag-zu-Tag-Politik. Er glaubt, dass das nicht funktioniert. Die Chinesen seien eher bereit, durch ganz schwierige Zeiten zu gehen, als sich von einem Staat unter Druck setzen zu lassen.

Was raten Sie den USA?

Der Konflikt ist für die ganze Welt problematisch, besonders für Deutschland natürlich. Wir sind das Land, das weltweit am stärksten in die internationalen Wertschöpfungsketten eingebettet ist. Das war 70 Jahre lang unser Erfolgsmodell. Nun ist es unsere Achillesferse. Wir müssen also ein Interesse daran haben, dass solche Handelskonflikte nicht aus dem Ruder geraten. Die Kritik Trumps an China ist ja berechtigt. Europa, Australien, Neuseeland und andere haben dieselben Interessen wie die USA. China muss eingebunden werden. Das wird aber nur gelingen, wenn diese Länder zusammen arbeiten, um China in die internationale Ordnung einzubinden. Und es wird nicht gelingen, wenn wir China versuchen zu bedrohen. Die Kündigung der Transpazifischen Partnerschaft TPP, das die USA mit allen Nachbarn Chinas abgeschlossen hatte, war ein Riesenfehler. Das hat eher den Einfluss Chinas in der Region vergrößert.

Nach den USA hat nun auch Polen die vermeintlich zu geringen deutschen Verteidigungsausgaben kritisiert. Zu Recht?

Es ist ein Missverständnis, dass nur die USA größere deutsche Militärausgaben fordern. Polen hat es nun öffentlich gesagt. Nicht öffentlich sagen das aber auch die Franzosen und andere. Die finden das nicht in Ordnung, dass sie selbst für europäische Interessen Soldaten in Krisengebiete schicken, die Deutschen aber nur fotografieren. Damit meinen sie Aufklärungs-Einsätze wie im Nahen Osten. Dabei sollten wir uns nicht hinter Trump verstecken. Das ist leider auch in der SPD so. Wir sollten nichts tun, weil uns jemand drängt, sondern weil es für uns selbst und die europäische Einigung richtig und wichtig ist. Wenn wir souveräner und unabhängiger von den USA sein wollen, dann heißt das, dass wir mehr Verantwortung übernehmen müssen. Bei den Konflikten in der zum Iran gehörenden Straße von Hormus hätten wir sofort zustimmen müssen, eine europäische Mission zu schaffen. Unabhängig von den USA, denn unsere Iran-Politik ist eine völlig andere als die der USA. Garnichts tun ist keine wirklich überzeugende Alternative für unsere europäischen Nachbarn. Die werden sich dann noch stärker an die USA binden, wenn sie den Eindruck haben, dass sie sich auf Deutschland nicht verlassen können.

Was halten Sie denn davon, zwei Prozent des Bundeshaushalts in die Bundeswehr zu stecken?

Na der erste Schritt wäre wohl mal, mit dem vorhandenen Geld besser zu wirtschaften. Wir sind nicht mal im Ansatz so einsatzfähig wie andere Länder. Aber sicher werden wir auch investieren müssen. Zwei Prozent unseres BIP wären 80 Milliarden Euro jedes Jahr. Frankreich als Nuklearmacht gibt nur 40 Milliarden aus. Nach zehn Jahren würden unsere Nachbarn vermutlich sorgenvoll auf eine so gewaltige Armee in Deutschland schauen. Niemand soll glauben, das Deutschland des 20. Jahrhunderts wäre überall vergessen. Mein Rat wäre, 1,5 Prozent in die Bundeswehr und 0,5 Prozent in die Nato-Fonds für die Verteidigung Osteuropas zu stecken. Dann würden wir zeigen, dass wir Deutschen bereit sind, für die Sicherheit Osteuropas Verantwortung zu übernehmen. Den Osteuropäern würde es signalisieren, dass die Amerikaner nicht die einzigen sind. Es würde Europa einen. Die USA stellen übrigens zu Recht infrage, warum sie 70 Prozent der Verteidigungslast Europas tragen.

Zur Innenpolitik: Am 1. September wird in Sachsen und Brandenburg gewählt. Erstmals könnte die AfD Landtagswahlen gewinnen. Rechnen Sie damit?

Ich habe schon die Hoffnung, dass wir das verhindern können. Die AfD wird Erfolge haben, das ist leider so. Ich denke aber, dass in Sachsen die CDU und in Brandenburg die SPD die Wahlen deutlich vor der AfD gewinnen werden.

Welche Auswirkungen hätte denn ein großer Erfolg der AfD bei den Wahlen auf die Koalition in Berlin?

Ich glaube, darauf hat sie keinen großen Einfluss.

Die SPD ist mit sich selbst beschäftigt.

Bedauerlicherweise.

Sie haben bereits das Bewerberduo aus Niedersachsens Innenminister Pistorius und Sachsens Integrationsministerin Köpping gelobt. Sollen die beiden den SPD-Vorsitz übernehmen?

Ich finde das sehr gut, dass die beiden kandidieren. Beide meinen es wirklich ernst mit der SPD. Sie kandidieren nicht, um sich selbst irgendwelche Vorteile bei Listenaufstellungen oder Ministerämtern zu verschaffen, wie es leider andere tun. Beide taktieren nicht, sondern wollen die SPD wirklich erneuern. Ich wähle nur Kandidaten, die das Amt der SPD-Vorsitzenden um der SPD willen anstreben und nicht mit anderen Zielen. Die SPD ist in einem Zustand, in dem sie nichts anderes braucht als Vorsitzende, die sich wirklich um die Erneuerung der Partei kümmern. Wenn man Erneuerung sagt, müssen es auch neue Leute sein. Und nicht diejenigen, die die 12 Prozent in den Umfragen zu verantworten haben und nun den Retter der SPD spielen wollen. Ich kenne Boris Pistorius seit Jahrzehnten. Er ist geerdet, betreibt keine abgehobene Politik. Ich wünsche mir, dass es wieder mehr kommunale Kompetenz in der Bundespolitik gibt.

Sie haben mal gesagt, dass die SPD wieder da hingehen muss, wo es brodelt. Ist Pistorius so jemand?

Das ist er auf jeden Fall.

Was halten Sie von Frau Köpping?

Sie ist eine wirkliche spannende und außergewöhnliche Frau und eben nicht nur ein Feigenblatt, damit ein Mann in einer Doppelspitze kandidieren kann. Sie kennt die Situation in Ostdeutschland und die Herausforderungen mit der AfD besser als viele andere. Seien wir ehrlich: dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, sind die Gräben zwischen Ost und West wieder ziemlich tief. Die SPD war übrigens die erste Partei, die eine Doppelspitze hatte. Das war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Allerdings nicht Mann und Frau, sondern damals immer zwei Männer. Wenn einer von beiden verhaftet wurde, war noch ein anderer da. Die Doppelspitze ist nicht neu für die SPD. Wenn man – wie es die Altvorderen der SPD getan haben – wieder anständig miteinander umgeht, kann das gut klappen.

Sie kennen den Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, aus Ihrer Zeit als Außenminister ja noch sehr gut. Wie schätzen Sie seine Chancen ein?

Ich finde es gut, dass Michael Roth, Christina Kampmann, Karl Lauterbach und Nina Scheer nicht lange herumtaktiert haben. Die haben einfach gesagt: Wir machen das! Vor dem Mut muss man erst mal Respekt haben. Viele andere haben sich in die Büsche geschlagen, als sie gebraucht wurden. Dieses Rumtaktieren war ja unerträglich. Vor allem bei denen, die ihre hohen Ämter alle der SPD zu verdanken haben. Das haben die Erwähnten nicht gemacht. Sie waren so mutig, ohne Netz und doppelten Boden anzutreten. Aber ich halte die Kandidatur von Boris Pistorius und Petra Köpping für die aussichtsreichste.

Mit den anderen meinen Sie wahrscheinlich auch Olaf Scholz, der zuerst sagte, er sei mit dem Job des Finanzministers ausgelastet genug und nun eine Kehrtwende hingelegt hat. Er tritt mit der weitgehend unbekannten Landtagsabgeordneten Klara Geywitz aus Brandenburg an. Was halten Sie davon?

Das muss er selbst erklären. Mir geht es gar nicht speziell um Olaf Scholz. Eher darum, was jetzt nötig ist, um die SPD nicht untergehen zu lassen. Denn sie ist in einer Existenzkrise. Im Zweifel würde ich sagen, dass es die SPD verdient hat, dass man auf Regierungsämter verzichtet, um sie aus der tiefsten Krise seit 1890 zu führen. Auch deshalb finde ich die Kandidatur von Boris Pistorius gut, der erklärt hat, dass er im Fall seiner Wahl selbstverständlich sein Regierungsamt aufgibt.

Mit Blick auf Olaf Scholz klingt das relativ moderat. Es ist ja bekannt, dass er nicht gerade ihr Freund ist.

Man muss auch nicht befreundet sein in einer Partei. Gegenseitiger Respekt reicht schon. Und das drückt sich auch dadurch aus, dass man nicht öffentlich schlecht übereinander redet. Was man sich zu sagen hat, kann und soll man direkt tun. Ich halte nichts davon, die schlechten Angewohnheiten anderer selbst zu übernehmen. Auch dann nicht, wenn man Grund dazu hätte.

Auf welche fundamentalen Fragen sollte die SPD Antworten finden?

Die SPD muss sich ehrlich machen. Dazu zählt, dass wir nicht über soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit reden können und gleichzeitig über wirtschaftlichen Erfolg schweigen. Deutschland steht am Rand einer Wirtschaftskrise. Im Kern müssen wir dringend darüber sprechen, wie wir auch morgen noch wirtschaftlich erfolgreich sein werden, denn nur so können wir auch sozial sicher leben. Wir Sozialdemokraten müssen uns doch kritisch fragen, warum wir zwar Milliardenbeträge in die sozialen Sicherungssysteme packen, uns aber trotzdem keiner wählt? Ich glaube, weil die SPD keine Orientierung über das Morgen bietet. Wir Sozialdemokraten wünschen uns oft nichts sehnlicher zurück als die guten alten Zeiten von Willy Brandt. Dabei hat genau er vor der Romantisierung des Vergangenen gewarnt und uns aufgefordert, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Heute sehen wir die Zukunft zu oft nur als Zumutung. Das war mal anders. Die Sozialdemokratie war eine der Zukunft aufgeschlossene und mutig gegenüberstehende Partei. Die SPD wollte die Zukunft gestalten. Wir wollten das große Rad drehen statt nur kleine Rädchen hin- und her zu schrauben und wie ein Techniker der Macht auszusehen. Das müssen wir wieder werden und Orientierung bieten in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt.