Hannover. Eine Tagung im Landtag spricht von einer neuen Qualität des Rechtsextremismus. Besondere Sorge bereiten gewaltbereite und waffenaffine Rechtsextreme.

Wie grenzen Sie Konservatismus, Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus voneinander ab?

Diese Frage stellt unser Leser Rudi Böhm aus Süpplingenburg.

Zum Thema schreibt Michael Ahlers

Es war ein ehrgeiziges Ziel, das der Präsident des Verfassungsschutzes Niedersachsen ausgab. „Wir müssen weit, weit vor die Lage kommen“, variierte Bernhard Witthaut ganz bewusst ein klassisches Versatzstück aus dem Polizeideutschen. Und der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, prophezeite bei einer Tagung der CDU-Landtagsfraktion nüchtern, es könne „weitere Verläufe dieser Art“ geben.

Der Anlass der Veranstaltung sei traurig, sagte der frühere Innenminister Uwe Schünemann (CDU) zur Einführung. „Der Mord an dem Regierungspräsidenten hat uns alle aufgerüttelt“, meinte sein Fraktionskollege Sebastian Lechner, innenpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion. Der Kasseler Regierungspräsident und frühere hessische Landtagsabgeordnete Walter Lübcke war Anfang Juni niedergeschossen worden, als Hauptverdächtiger gilt ein Mann, der sich bereits früher im rechtsextremistischen Milieu bewegt haben soll. Nach außen galt er als unauffällig.

Neue Qualität des Rechtsextremismus

„Stehen wir einer neuen Qualität des Rechtsextremismus gegenüber?“, lautete die Frage der Anhörung. Zu den Experten zählten weiter der Politikwissenschaftler Florian Hartleb, zu dessen Forschungsschwerpunkten neben Digitalisierung auch Rechtsextremismus gehört. Vom Staatsschutz im Landeskriminalamt war Siegfried Maetje gekommen, die Juristenperspektive brachte Frank Lüttig ein, Generalstaatsanwalt in Celle.

Bernhard Witthaut, Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes (links) und Generalstaatsanwalt Frank Lüttig.
Bernhard Witthaut, Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes (links) und Generalstaatsanwalt Frank Lüttig. © dpa | Christophe Gateau

Dass es in der Tat um eine neue Qualität des Rechtsextremismus geht, darüber waren sich die Experten einig. Hartleb hatte schon mit seinem Buchtitel zum Thema („Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“) versucht, den Wandel plakativ deutlich zu machen. Viele der Täter verbrächten 70 bis 80 Prozent ihrer Zeit im Internet und radikalisierten sich auch vor dem Hintergrund persönlicher Kränkungen und Störungen, sagte Hartleb in Hannover. Zugleich sieht er „eine gewisse Kettenreaktion“ – so wird immer wieder Bezug auf den Norweger Anders Breivik genommen. Dieser hatte den Massenmord unter den Teilnehmern eines Jugendlagers 2011 in einem „Manifest“ begründet. Das Bild vom „einsamen Wolf“ wollte Hartleb allerdings nur auf die Ausführung der Taten bezogen wissen. Die Täter radikalisierten sich nicht blitzartig, sie hinterließen im Netz auch Spuren und dockten an bestehende Organisationen an, so der Wissenschaftler weiter. Auch Gewaltspiele im Internet spielten eine wichtige Rolle.

„Ja, die Lage hat sich verändert“, sagte auch der Verfassungsschutz-Vize des Bundes, Selen. Der Ton verschärfe sich, sagte er mit Blick auf Hassmails, die Szene agiere teilweise offen, teilweise auch konspirativ.

Mehr denn je Gefahr für das Gesellschaftsgefüge

Als „Überbau“ werde eine Bedrohung der „Weißen Rasse“ oder des „Westens“ angeführt. Wie der Verfassungsschutz weiter beobachtet, vermischen sich verschiedene Szenen. Dass Konzerte einschlägiger Bands eine wichtige Rolle spielen, ist lange bekannt. Selen nannte auch Kampfsport als Kontaktmöglichkeit, dazu auch Demonstrationen. „Die Szene ist dezentral, spontan und digital“, brachte es der Bundes-Verfassungsschützer auf einen Nenner. Man sehe aber nur Teile der Aktivitäten, so Selen. Denn teilweise tauchen die Mitglieder der Szene in verschlüsselte Chats ab. Jemanden an seinem Mitgliedsausweis zu erkennen, sei jedenfalls Schnee von gestern.

„Der deutsche Ansatz ist vereinigungsbezogen“, sagte der Celler Generalstaatsanwalt Lüttig – und meint damit die langwierigen Verbotsverfahren. „Die Qualität des Rechtsextremismus hat sich deutlich verändert und ist mehr denn je eine Gefahr für unser Gesellschaftsgefüge“, betonte Lüttig. „Wir müssen verstärkt den Fokus auch auf die rechte Szene richten“, sagte Staatsschützer Maetje vom Landeskriminalamt. Dass die Zahl rechtsmotivierter Straftaten in Niedersachsen von 2017 auf 2018 leicht gesunken war, auf 1318, gilt als nur bedingt aussagekräftig. Für 2019 ist schon wieder von einem Anstieg die Rede. Maetje betonte auch, dass die Szene „überwiegend regionalbezogen“ sei – und nannte die Region Braunschweig und Südniedersachsen als Beispiel. Die digitale und die analoge Welt zusammenzubringen, scheint aber nicht ganz einfach zu sein. Denn immer wieder war bei der Tagung auch von „Internationalisierung“ die Rede, dazu von den mittlerweile guten Englischkenntnissen in der Szene.

Hoher Anteil gewaltbereiter und waffenaffiner Rechtsextremer

„Neue Rechte“ und rechtsextremistische Teilorganisationen wirkten als „Durchlauferhitzer“, berichtete Selen. Besondere Sorge macht der hohe Anteil gewaltbereiter und waffenaffiner Rechtsextremer. Zur Frage unseres Lesers: „Konservatismus“ gehört als politische Strömung nicht in diesen Zusammenhang. Im Verfassungsschutzbericht des Landes heißt es: „Im folgenden Bericht wird ausschließlich über solche Bestrebungen berichtet, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte eine Bewertung als extremistisch rechtfertigen.“ Die beiden anderen Begriffe verschwimmen in der Tat oft. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung erläutert man die Entwicklung so: „In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wurden verfassungsfeindliche Bestrebungen von rechts als „rechtsradikal’’ deklariert.“ Seit Beginn der 1970er Jahre würden rechtsgerichtete Demokratiefeinde offiziell als Rechtsextremisten bezeichnet. Die Grenzen vom Rechtsradikalismus zum Rechtsextremismus seien allerdings häufig fließend.

Eine noch engere Zusammenarbeit von Bund und Ländern, deutlich mehr Präsenz der Ermittler im Internet und technisch wie juristisch praktikable Verfahren für Telekommunikationsüberwachung oder online-Durchsuchungen zählten zu den Gegenmitteln, die bei der Tagung genannt wurden. „Vor der Lage“ sieht man sich offenbar noch lange nicht.