Braunschweig. Die Gedenkkultur wird auf die Probe gestellt. Immer weniger Zeitzeugen leben noch. Christoph Heubner erklärt, wie wichtig Gedenkstättenarbeit ist.

Ein gemeinsames Projekt des Internationalen Auschwitz Komitees (IAK) und des Volkswagen Konzerns mit der Gedenkstättenarbeit in Auschwitz und der Jugendbegegnung in Oświęcim versucht daher neue Wege zu schaffen, um zu erinnern. Das Projekt wurde vom Betriebsrat initiiert und wird vom Unternehmen seit 1987 gefördert.

Erst im Juni hat der Volkswagen-Konzern seine Zustimmung gegeben, dieses Projekt fortzuführen. Volkswagen Personalvorstand Gunnar Kilian übergab aus diesem Anlass zwei Multivan-Kleinbusse in Berlin in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand an den IAK-Exekutiv-Vizepräsidenten Christoph Heubner und den Vizedirektor der Gedenkstätte Auschwitz Andrzej Kacorzyk. Kilian sagt: „Volkswagen und das Internationale Auschwitz-Komitee verbindet seit drei Jahrzehnten eine einzigartige Zusammenarbeit. Wir wollen, dass die Erinnerung an die Gräueltaten und das Leiden nie verblassen. Deshalb sind und bleiben uns die Gedenkstättenarbeit in Auschwitz und die Jugendbegegnungen in Oświęcim außerordentlich wichtig.“

Diese Haltung mag in Zeiten von zunehmender Diskriminierung keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Christoph Heubner, der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, sprach im Interview über die Möglichkeiten einer modernen Gedenkkultur.

Welches Interesse zeigen die Auszubildenden von VW an dem Projekt?

Über die Jahre haben etwa 3300 Jugendliche an dem Projekt teilgenommen. Die Breitenwirkung ist jedoch viel größer – innerhalb des VW-Konzerns wird sich über das Projekt ausgetauscht und somit auch auf das Thema und auf die Haltung des Konzerns aufmerksam gemacht.

Gemeinsam tragen die Azubis dazu bei, die Gedenkstätte Auschwitz zu erhalten. Was sind ihre Aufgaben?

Bei einer Fläche von 190 Hektar sind die Aufgaben sehr vielfältig. Neben pflegerischen Aspekten, wie Wege freilegen oder das Reparieren von Stacheldrahtzäunen, stellt auch das Konservieren einen großen Aufgabenbereich dar.

Christoph Heubner, Berlin, Internationales Auschwitz-Komitee.
Christoph Heubner, Berlin, Internationales Auschwitz-Komitee. © Lars Landmann | Archiv

Häufig gibt es von den Opfern keine Spur mehr. Wir haben jedoch ihre Schuhe und diese verraten viel über ihre Herkunft. Sie zu konservieren ist dann die Aufgabe der Azubis. Gleichzeitig können die Jugendlichen so auf Spurensuche gehen und beschäftigen sich intensiv mit der Thematik. Die Opfer des Holocaust werden uns dadurch wieder nah. Jeder von den Jugendlichen stellt dann Parallelen her. Gleichzeitig kommen hier auch die Fähigkeiten der Azubis zum Einsatz. Oft sind sie in ihrer Gruppe sehr gut organisiert, sprechen sich bei der Aufgabenverteilung gut ab und ihre technischen Fähigkeiten kommen zum Einsatz. Auch die körperliche Arbeit sind sie gewöhnt. Sie sind dann mit Kopf, Herz und Hand bei der Sache.

Jetzt hat VW die Kooperation verlängert – ein wichtiger Schritt?

Das Drumherum hat sich über die Jahre so verändert, dass es früher eine Geste war, jetzt ist es ein politisches Statement. Die klare Bekenntnis von VW gegen den zunehmenden Antisemitismus, Rassismus und die Aggressivität sind dabei ein wichtiges Zeichen.

Selbstverständlich ist für uns aber auch die Manpower und die finanzielle Unterstützung, die VW mit dieser Kooperation liefert, wichtig.

Dennoch wird es immer schwieriger die Jugend über den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung aufzuklären. Es leben weniger Zeitzeugen, die Informationsflut ist dagegen gewaltig. Wie kann eine Aufklärung trotzdem funktionieren?

Persönliche Bezüge herzustellen ist enorm wichtig. Wenn man sich immer damit aufhält, dass die zeitliche Distanz größer wird, werden wir nicht weiterkommen.

Es sollte eher darum gehen, Parallelen herzustellen. Wir alle sind Töchter oder Söhne. Wir haben Hoffnungen und Perspektiven – dies alles kann beim Gedenken eine Rolle spielen.

Mir persönlich ist dabei wichtig, dass ich nicht aus einem Elfenbeinturm heraus spreche und die Jugendlichen belehre. Wir sollten nicht nur über Zahlen und Fakten sprechen, sondern müssen auch konkrete Lebensgeschichten dieser Menschen aufgreifen.

Richten wir in der Arbeit mit den Jugendlichen den Blick in die Vergangenheit, dann schauen wir automatisch auch in die Zukunft. Hier greift das einfache Prinzip: Bin ich gegen etwas, dann bin ich auch für etwas. In unserem Fall ist da natürlich wichtig, dass wir uns gegen Antisemitismus aussprechen. Gleichzeitig diskutieren wir in den Projekten aber auch darüber, was eine bunte, offene Gesellschaft und Demokratie kennzeichnet.

Wie nehmen Sie den Umgang von Azubis mit dem Thema Holocaust und ihr Wissen darüber in Ihrer täglichen Arbeit wahr?

Geändert hat sich im Lauf der Jahre nicht viel. Der standardisierte Satz „Wir können es nicht mehr hören“ – den gab es auch schon in den 50er-Jahren. Mit Blick auf die Jugendlichen ist es ähnlich. Meist greift nach meiner Erfahrung eine Unterteilung in 60 zu 40 Prozent. Für 60 Prozent der Jugendlichen hat das Thema einen marginalen Wert in der Schule. Die anderen 40 Prozent sagen, dass sie Lehrer haben, die das Thema spannend aufbereiten.

Das wir uns mit dieser Entwicklung nicht zufriedengeben sollten, zeigen aktuelle Entwicklungen: Wir dürfen die Augen nicht vor Ereignissen verschließen, wie dem mutmaßlich rechtsextrem motivierten Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergab 2017, dass nur knapp die Hälfte der 14- bis 16-Jährigen wissen, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager war – was sagen Sie dazu?

Eine erschreckende Erkenntnis. Das korrespondiert mit meiner vorherigen Aussage – zu wenigen Jugendlichen wird das Thema auf eine interessante Weise nahegebracht. Ich denke aber auch, dass sich diese Entwicklung verändern wird – alleine aufgrund der aktuellen politischen Ereignisse muss die NS-Zeit wieder verstärkt auf die Agenda der Schulen rücken.

Glauben Sie es hakt im Bildungssystem?

Ich kann nicht sagen, ob bereits im Bildungssystem etwas falsch gemacht wird. Vielleicht denken die Pädagogen: Hier ist ein Kapitel, das haben wir schon so häufig gemacht, das können wir jetzt ruhiger angehen lassen. Dort sind wir in den letzten Monaten jedoch eines besseren belehrt worden.

Es wird ja auch diskutiert, ob ein Besuch in einer Gedenkstätte für jede Schule verpflichtend sein sollte.

Das wäre der falsche Ansatz. Die Schüler würden sich dann nur fragen: Was soll das jetzt? Ich denke, dass die Pädagogen in der Pflicht sind, das Thema so in den Unterricht einzubinden, dass die Schüler selbst den Wunsch äußern, eine Gedenkstätte zu besuchen.

Gleichzeitig spielen auch finanziellen Mittel eine Rolle: Qualifizierte Pädagogen müssen die Schüler in den Gedenkstätten betreuen, und und es müssen genügend Gelder für solche Fahrten zur Verfügung gestellt werden. Zudem sollten solche Ausflüge in ihrem Gesamtkontext betrachtet werden. Ein Besuch in einer Gedenkstätte sollte nicht mit einer Klassenfahrt nach Paris oder Athen verbunden werden – ein Stopp zwischen zwei Stationen reicht nicht aus, um eine Gedenkstätte ernsthaft zu besuchen.

Kinder aus Migrantenfamilien blicken mit ganz anderen Augen auf die deutsche Vergangenheit. Sehen Sie eher Probleme oder neue Ansätze?

Auch unter den Azubis haben wir „bunte“ Gruppen. Wenn es uns gelingt hier einen Zusammenhang ihrer eigenen Geschichte und der der NS-Opfer herzustellen, stoßen wir häufig auf Zustimmung. Ich habe hier immer positive Erfahrungen gemacht und auch sehr schöne Momente erlebt. Einmal haben ein jesidischer und ein türkischer Junge an einem Projekt teilgenommen. Gemeinsam diskutierten sie über die Verfolgung eines jüdischen Jungen und tauschten sich aus, so etwas ist doch toll. Deutlich wird: Persönliche Erfahrungen spielen eine große Rolle. Die Migranten können aus ihren Erfahrungen berichten – so wird Geschichte mit anderen Augen betrachtet.

Wie könnte eine moderne Gedenkkultur aussehen?

Selbstverständlich richten wir weiterhin den Blick in die Vergangenheit. Aber wir wissen immer, wo wir stehen – in der Gegenwart – und blicken dann auch in die Zukunft. Das gehört zu einer modernen Gedenkkultur.