Braunschweig. Der frühere Bundespräsident warb beim Leserforum unserer Zeitung zur Europawahl für mehr statt weniger Europa. Das nütze am Ende auch Deutschland.

2019_05_08Leserfourm Europawahl BZV

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    Ex-Bundespräsident Christian Wulff hat bei einem Leserforum zur Europawahl im BZV Medienhaus diejenigen scharf attackiert, die aus seiner Sicht die europäische Idee verhöhnen. „Europa steht unter Druck von außen, von Putin und Trump, und von den Nationalisten im Inneren des Kontinents. Diesen Autokraten und Narzissten dürfen wir Europa nicht überlassen“, forderte Wulff vor rund 120 Zuhörern. Mit Blick auf die angesetzten Neuwahlen in der türkischen Metropole Istanbul sagte er: „Hier muss die EU ein klares Zeichen setzen. Es ist nicht hinnehmbar, wenn in der Türkei die Demokratie abgeschafft wird.“ Er warnte davor, Errungenschaften wie den Schutz von Minderheiten als selbstverständlich hinzunehmen. „Demokratie muss gelebt werden und es braucht Beteiligung. Demokratie ist die beste aller Staatsformen, aber wenn sich niemand an ihr beteiligen will, ist sie am Ende schwach und schwer zu schützen.“ Über diesen Satz seines Vaters, der 1913 geboren wurde, denke er heute immer wieder nach, erklärte er.

    Wulff hält Macron für „einen Glücksfall“ für Europa

    Auf Einladung der Evangelischen Abt Jerusalem Akademie und unserer Zeitung war der frühere niedersächsische Ministerpräsident (2003-2010) am Mittwochabend nach Braunschweig gekommen, um zusammen mit dem Europaabgeordneten Bernd Lange (SPD) und der Politikwissenschaftlerin Anja P. Jakobi von der TU Braunschweig über die Zukunft Europas zu diskutieren. Durch den Abend führten als Moderatoren, Landesbischof Christoph Meyns und der Chefredakteur unserer Zeitung, Armin Maus. Wulff treibt die negative Stimmung in Deutschland um. Kein Land profitiere mehr von der europäischen Idee des Freihandels, kein Land erziele einen derart hohen Exportüberschuss. Die Milliarden würden nur so sprudeln, den Deutschen gehe es so gut wie nie“, beschreibt Wulff ist die Ist-Situation. Und dennoch herrsche eine „Weltuntergangsstimmung.“ „Wie wäre eigentlich die Stimmung, wenn die Lage wirklich schlecht wäre?“

    Leidenschaftliches Plädoyer für Europa

    In seinem leidenschaftlichen Plädoyer für ein vereintes und vielfältiges Europa, sagte Wulff: Die Geschichte der EU sei der „einzige Frühling“ in der Geschichte eines Kontinents, der viel länger von Krieg, Leid und Hunger überzogen wurde als die aktuelle Phase des Friedens andauere. „Eigentlich leben wir in einem befriedeten, aber nie konfliktlosen Europa, erst seit 30 Jahren, seit der Wiedervereinigung. Das ist nur ein Wimpernschlag in der Geschichte.“ Für den CDU-Politiker ist der französische Präsident Emmanuel Macron ein Visionär, „ein Glücksfall, der Europa verstanden hat“. „Nur gemeinsam werden wir politisch eine Bedeutung haben und können unseren Einfluss in der Welt, auf die USA und China, geltend machen können.“

    Leserforum zur Europawahl im BZV-Medienhaus

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    Europaabgeordneter Lange: Deutsche finden Europa „eine gute Sache“

    Der Europaabgeordnete Lange (SPD) verspürt zweieinhalb Wochen vor der Europawahl auf den Straßen im Wahlkampf eine grundsätzliche Zustimmung der Bürger zur EU. „Ich stelle fest, dass die Fragen nach Europa konkreter werden. Die Menschen fragen mich, warum die Briten denn eigentlich raus wollen aus der EU. Früher war eher die Frage: Was bringt Europa mir denn überhaupt persönlich?“ Umfragen würden sein Gefühl stützen. „80 Prozent der Deutschen finden, dass die EU eine gute Sache ist.“ SPD-Mann Lange monierte jedoch, dass in der Öffentlichkeit die EU immer wieder als bürokratisches Ungetüm hingestellt würde. Da gehe es dann um Bananen- und Gurkenverordnungen. „Die Friedhofssatzung einer Kommune ist auch ein Hort des Absurden. Da regt sich aber keiner auf, da traut sich keiner ran“, so Lange.

    Politologin warnt: Das EU-Projekt braucht Geduld

    Politikwissenschaftlerin Anja P. Jakobi warnte davor, die EU zu glorifizieren. „So schön die Idee eines im Geiste geeinten Europas auch sein mag: Viele Bürger sind immer noch der Ansicht, dass Entscheidungen nicht in Brüssel, sondern weiter auf nationaler Ebene oder bilateral zwischen Staaten getroffen werden sollten.“ Die EU sei ein langfristig angelegtes Projekt, das Geduld und keine übereilten Beschlüsse benötige. „Geduld ist kein schlechter Ratgeber“, sagte sie.

    Am 26. Mai sind Europas Bürger dazu aufgerufen, ein neues Parlament in Straßburg zu wählen. Beobachter rechnen damit, dass die Euroskeptiker von ganz rechts und ganz links einen Stimmenzuwachs erhalten werden. Auch Wulff hat Angst, dass das so kommt. „Wir können den Betrieb dann auch irgendwann einstellen, wenn die Mehrheit des Parlaments dafür ist, sich selbst abzuschaffen“, erklärte er. Bei der letzten Wahl im Jahr 2014 gaben europaweit nur 43 Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme ab, in Deutschland war der Stimmanteil mit rund 48 Prozent leicht überdurchschnittlich.