Braunschweig. Felix Klein ist Bundesbeauftragter für jüdisches Leben in Deutschland. Im Gespräch mit Lesern fordert er Meldestellen für Übergriffe auf Juden.

Mitten in Berlin wird ein Israeli mit Kippa mit einem Gürtel geschlagen, in Chemnitz greifen Rechtsextreme ein jüdisches Café an. Themen für Felix Klein, seit fast einem Jahr Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung – ein neu geschaffener Posten. Was seine Aufgaben sind und was auch Muslime in Deutschland von ihm erwarten können, diskutierte er mit unseren Lesern. Dirk Breyvogel moderierte das Gespräch.

Eymen Kilic: Warum ist Ihre Stelle im Bundesinnenministerium im Mai 2018 geschaffen worden?

Dr. Felix Klein: Es war das Eingeständnis der Politik, das Grundübel in Deutschland nicht beseitigt zu haben. Menschen werden in Deutschland weiter attackiert und diffamiert, nur weil sie Juden sind.

Sadiqu Al-Mousllie: Was ist Ihr Hauptanliegen?

Zwar werde ich von Juden als Stimme wahrgenommen, die ihre Anliegen vertritt, ich bin aber für die ganze Gesellschaft da. Wenn jüdische Mitbürger Opfer von Übergriffen werden, ist das am Ende ein Problem für alle, weil unser Rechtsstaat nicht in der Lage ist, Minderheiten zu schützen. Ich will sensibilisieren, dass es in Deutschland keine Hierarchisierung von Antisemitismus gibt. Denn ganz egal, was die Motive der Täter sind – jede antisemitische Straftat bedeutet die Überschreitung einer roten Linie.

Matthias Stegmaier: Haben Sie das Gefühl, dass in Deutschland so gedacht wird?

Ich habe schon das Gefühl, dass gerade aus der Ecke der Populisten, von sogenannten „Bio-Deutschen“, versucht wird, eine Entlastungsstrategie zu fahren, indem sie auf die Muslime zeigen. Es gibt muslimischen Antisemitismus, wir dürfen ihn nicht klein reden. Ich warne aber davor, dass wir uns auf eine Diskussion einlassen, welche Form von Antisemitismus die gefährlichste ist.

Stegmaier: Welche Möglichkeiten haben Sie als Beauftragter?

Vorweg ist zu sagen, dass ich nur da Maßnahmen umsetzen kann, wo der Bund zuständig ist. Für meine Ziele kann ich in den Ländern aber werben. Ich habe auch beispielsweise kein Sonderrecht auf Akteneinsicht. Ich halte es für richtig, dass wir neben den Mitteln der Repression auf Prävention und Aufklärung setzen. Ein Anliegen ist für mich, dezentrale Meldestellen in Deutschland aufzubauen, an die sich Opfer wenden können. Anlaufstellen, die Taten erfassen, die unter der Strafbarkeitsgrenze liegen. Wir müssen diese Vorfälle sichtbarer machen, damit der Bevölkerung klargemacht wird, dass Antisemitismus viel stärker verbreitet ist als angenommen. So eine zivilgesellschaftliche Anlaufstelle, die eine Mischung zwischen Hilfs- und Meldestelle ist, wurde in Berlin unter dem Namen RIAS ins Leben gerufen.

Sadiqu Al-Mousllie: Was ist das Ziel? Und gab es in Berlin schon diese Form der Meldungen?

Das Ziel ist eine Landkarte für Deutschland, die zeigt, welche Formen und Ausprägungen von Antisemitismus es gibt. Eine Grundlage für die anstehende Präventionsarbeit. Ja, das Berliner Modell ist angelaufen. Menschen melden sich, antisemitische Anfeindungen werden registriert. Aber es gibt natürlich auch Fälle, die als nicht relevant eingestuft werden.

Stegmaier: Vorfälle wie der Gürtelangriff in Berlin werden politisch instrumentalisiert. Es ist so viel Druck da. Wie wollen Sie zur Versachlichung zurückkehren?

Das ist eine Querschnittsaufgabe mit vielen Ansätzen. Andere sagen, es sei eine Herkulesaufgabe, weil es so viele Formen von Antisemitismus gibt. Der Schlüssel ist sicherlich die Schule. Wir müssen die Lehrer fit machen, damit sie eingreifen, wenn jemand gemobbt wird. Das Wort „Jude“ wird mitunter auf dem Schulhof in der Konnotation „Du Opfer“ als Schimpfwort verwendet. Die Lehrerausbildung ist hier noch viel zu inhaltsbezogen. Viele Lehrer fühlen sich bei solchen Vorfällen überfordert.

Stegmaier: An was mangelt es noch?

Auch Schulbücher müssen das Judentum grundsätzlicher erklären. Oft wird die Geschichte der Juden ausschließlich als Opfer der Nationalsozialisten den Schülern nähergebracht. Das ist zu kurz gedacht, da Juden von je her zu Deutschland gehörten und unser Land mitgeprägt haben. Und wir müssen die Erinnerungskultur in den Gedenkstätten anpassen und auch interessant für Kinder machen, deren Eltern nicht aus Deutschland kommen. Übrigens: Es gab auch Araber, also Muslime, die Juden im Nationalsozialismus unter Einsatz ihres Lebens gerettet haben und vom Staat Israel geehrt wurden.

Sadiqu Al-Mousllie: Mich stört oft das Wording, das Wörter in der Öffentlichkeit unbedacht benutzt werden. Wenn ein Deutscher eine antisemitische Straftat begeht, ist es ein Rechtsextremist, der politisch motiviert handelt. Wenn der Täter ein Syrer oder Palästinenser ist, ist er zuallererst ein Muslim, also ein Angehöriger einer Religionsgemeinschaft. Auch die Begriffe Islamismus und Islam werden munter durcheinandergebracht. Diese Differenzierung fehlt mir. Was sagen Sie dazu?

Sie haben Recht, die Diskussion sollte zielgenauer geführt werden. Wir müssen uns auch nicht darüber unterhalten, dass die Islamisten den Islam als Religion missbrauchen. Grundsätzlich finde ich wichtig, dass Vertreter der muslimischen Gemeinden in Deutschland diese Diskussion selbst anstoßen. Das passiert viel zu selten. Es ist unbestritten, dass antisemitische Einstellungsmuster bei Muslimen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Kurden haben meines Erachtens praktisch gar keine Probleme mit Juden, während in den Nachbarstaaten Israels judenfeindliche Einstellungen größer sind. Das hängt natürlich mit dem Nahost-Konflikt zusammen.

Sadiqu Al-Mousllie: Sie sind also auch für mehr Differenzierung?

Ja. Wir dürfen natürlich nicht alle Muslime über einen Kamm scheren. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es im Sinne aller muslimischen Gemeinden in Deutschland sein muss, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, denn es zeigt ja den Willen, sich zu integrieren. Muslime können bei dieser offenen und aktiven Haltung auch viel stärker Solidarität von der Gesellschaft einfordern – wenn Frauen, nur weil sie ein Kopftuch tragen, bepöbelt werden oder Moscheen angezündet werden. Auch das ist nicht hinnehmbar. Aber vor einem sollten Sie keine Scheu haben: Dinge, die positiv sind, Projekte, die das Verhältnis von Religionen untereinander verbessern, auch in die Öffentlichkeit zu bringen. Das passiert noch oft zu selten.

Ibrahim Al-Mousllie: Ich habe Antisemitismus mit einem niedrigen Bildungsniveau in Verbindung gebracht. Jetzt bedienen AfD-Politiker wie Höcke oder Gauland platte Vorurteile. Was hat sich in unserer Gesellschaft verändert?

Antisemitische Ressentiments gab es schon immer, tief in der Gesellschaft verwurzelt. Geändert hat sich, dass diese viel ungehemmter ausgesprochen werden. Die sozialen Medien haben diese Hemmschwellen heruntergesetzt. Im Internet finden Gleichgesinnte leichter zusammen. Meine Position dazu ist: Das, was im realen Leben verboten ist, muss auch im Netz verboten sein. Dazu gehört natürlich auch, den Holocaust zu relativieren oder gar zu leugnen.

Ala Hamza: Was beobachten Sie noch?

Die zunehmende Provokation im deutschen Rap hat viele junge Leute angesprochen. Es gilt als cool, diese Musik zu hören. Hier wird aber nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Frauen, Homosexuelle und auch gegen Muslime gehetzt. Das ist eine schreckliche Entwicklung. Deshalb müssen alle gesellschaftlichen Akteure im ständigen Austausch sein. Sie müssen sich vergewissern, dass sie alle, wenn es um Antisemitismus oder andere Formen von Diskriminierung geht, an einem Strang ziehen. Die Vergabe des Echo-Preises an die Rapper Farid Bang und Kollegah und die anschließende Aberkennung und Abschaffung des Preises ist für mich ein positives Beispiel, dass öffentliche Reflexe wirken und zu Veränderungen führen können.

Eymen Kilic: Die Kriminalitätsstatistik sagt, dass die meisten antisemitischen Straftaten von Rechtsextremen begangen werden. Viele Juden empfinden das anders. Die Täter hätten oft einen Migrationshintergrund, sagen sie. Wie passt das zusammen?

Also die ersten Ergebnisse der RIAS-Meldestelle in Berlin zeigen, dass die Zahl der Vorfälle, an denen Täter aus dem arabischen Raum – sehen Sie Herr Al-Mousllie, ich differenziere schon jetzt hinsichtlich der Täterbezeichnung – höher sind als die 4,7 Prozent, die bei der Kriminalitätsstatistik aufgeführt werden. Es gibt da aber auch eine Grauzone. Heute ist es in der Regel so, dass eine Schmiererei an der Hauswand wie „Juden raus“ automatisch dem rechtsextremen Milieu zugeschrieben wird. Die Datenlage ist aber noch nicht valide, da bitte ich um etwas Geduld.

Ala Hamza: Auch ich bin täglich Opfer von Diskriminierungen. Können Sie sich vorstellen, dass es irgendwann einen Beauftragten gibt, der sich schützend vor weitere Minderheiten stellen wird?

Wir haben seit 40 Jahren in Deutschland das Amt der Integrationsbeauftragten. Es gibt zudem die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Ich kann Sie da nur ermutigen, diese Stellen aufzusuchen, wenn Sie sich beispielsweise bei der Wohnungssuche ungerecht behandelt fühlen. Sie haben Rechte und Sie sollten die auch wahrnehmen. Dieses Amt, das ich jetzt ausfülle, ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte und unserer Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verstehen. Meine Hoffnung ist, dass, wenn wir Erfolge im Kampf gegen den Antisemitismus haben, sich andere Formen von Diskriminierung gleich miterledigen. Denn ein Antisemit ist häufig auch ein Muslimhasser oder ein Rassist oder hat ein Problem mit unserer westlichen Lebensweise.

Ala Hamza: Sie haben die Bedeutung der Schulen betont. Wir nehmen das Thema Nationalsozialismus seit drei Jahren durch. Wie schafft man es, dass die Schüler das Interesse nicht verlieren?

Das Thema ist wichtig, um die richtigen Schlüsse auch für die Zukunft zu ziehen. Unser jetziges politisches System, das Grundgesetz, versteht man doch nur, wenn man sich vor Augen führt, dass es die Antwort ist auf das Versagen unserer Gesellschaft in den 30er Jahren und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft.

Ibrahim Al-Mousllie: Es gibt immer weniger Überlebende des Holocaust. Wie kann man verhindern, dass Erinnerung verblasst und Betroffenheit abnimmt?

Der Unterricht muss anschaulicher und projektbezogener werden. Ich bin aber zu der Auffassung gelangt, dass es keinen Sinn macht, Schüler zwangsweise zu verpflichten, eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Wir müssen Angebote machen, denn ansonsten kommt es zu Übersprungshandlungen, die das Gegenteil erzeugen von dem, was wir beabsichtigen. Aber denen, die ermüdet sind, müssen wir ins Bewusstsein rufen: Diesen Teil der deutschen Geschichte zu kennen gehört zum Rüstzeug – genau wie die deutsche Sprache – um in Deutschland gut integriert und erfolgreich leben zu können.