Braunschweig. Der Europa-Abgeordnete David McAllister befürchtet, dass Großbritannien schlafwandelnd auf einen chaotischen Brexit zuläuft.

Mit dem Europaabgeordneten und Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei, David McAllister, sprach Andre Dolle.

Renationalisierung ist das Gebot der Stunde: weniger Europa, mehr Nationalstaat. Zerschellt Europa an den zunehmenden Egoismen?

Die EU steht vor enormen Herausforderungen. Im Kern geht es darum, die EU weiter zu reformieren. Wir brauchen starke und handlungsfähige Institutionen und müssen demokratischer, transparenter und effektiver werden. Vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik gilt es, geschlossener aufzutreten, wenn unsere Stimme in der Welt Gehör finden soll. Europa muss man richtig machen!

Großbritannien will nicht mehr Teil der EU sein, scheidet voraussichtlich am 29. März aus. Oder ist der Brexit doch noch abwendbar?

Der Brexit ist eine historische Fehlentscheidung, die vor allem für das Vereinigte Königreich schwerwiegende Folgen haben wird. Die EU verliert den drittgrößten Mitgliedstaat, die zweitstärkste Volkswirtschaft und zusammen mit Frankreich auch die führende militärische und außenpolitische Kraft. Dass der Brexit noch abgewendet werden kann, hoffe ich sehr. Aber realistisch betrachtet, muss man davon ausgehen, dass das Vereinigte Königreich am 29. März leider die EU verlassen wird.

Als Zwischenschritt gilt das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen. Boxt Premierministerin Theresa May das Abkommen bei der Abstimmung am Dienstag im britischen Unterhaus durch?

Stimmt das britische Parlament dem zu, kann der Austritt in einem ordentlichen Verfahren über die Bühne gehen und bis Ende 2020 gäbe es eine Übergangsphase. Wenn nicht, sind alle Optionen auf dem Tisch: auch die eines ungeregelten, chaotischen EU-Austritts ohne Abkommen und Übergangsphase. Ein erneutes Referendum wäre ebenfalls nicht ausgeschlossen. Der Dienstag wird spannend. Die Lage ist sehr unübersichtlich. Auf jeden einzelnen Volksvertreter kommt eine große Verantwortung zu. Wenn die britischen Abgeordneten das Abkommen mehrheitlich ablehnen, liegt es an ihnen, eine umsetzbare Alternative zu präsentieren.

Es hat gut zwei Jahre gedauert, bis im November ein Vertrag zwischen London und der EU vorlag. Was ist so schlecht am Vertrag?

Dieser Vertrag, den wir als EU ja gar nicht verhandeln wollten, da wir nicht um die Scheidung gebeten haben, ist ein vertretbares Ergebnis. Beide Seiten sind Kompromisse eingegangen. Für die künftigen Beziehungen hätten wir noch bis Ende 2020 Zeit, um die Details zu regeln. Ganz entscheidend ist die hochsensible irisch-nordirische Grenzfrage. Unter allen Umständen muss eine harte Grenze vermieden werden. Sonst könnte das Karfreitags-Abkommen von 1998 wieder infrage gestellt werden. Es besteht die Gefahr einer erneuten Gewaltspirale. Die Vereinbarung sieht vor, dass das Vereinigte Königreich bis zu einer endgültigen Lösung der Grenzfrage in Gänze in der Zollunion der EU bleibt. Manche britische Abgeordnete im Unterhaus kritisieren, dass diese Regelung nicht zeitlich befristet ist.

War die Regelung nicht anfänglich sogar ein Vorschlag der Briten?

So ist es. Der ursprüngliche Vorschlag der EU war es, dass Nordirland mit einem Sonderstatus Teil des Binnenmarktes und der Zollunion bleiben könnte. Das ist aber nicht mehrheitsfähig in London.

Die Brexit-Kampagne war voller Desinformation und vager Versprechen. Dämmert den Briten endlich, was sie da machen?

Die Brexit-Kampagne wurde für britische Verhältnisse ungewöhnlich polarisierend geführt. Die EU-Gegner haben Tatsachen verdreht, mit Halbwahrheiten und glatten Lügen operiert. Das Referendum zeigt, wozu Nationalisten, Populisten und Demagogen in der Lage sind. Sie haben die Menschen mit einer unverantwortlichen Kampagne verunsichert. Führende Akteure haben sich nach dem Referendum tagelang vom Acker gemacht, weil sie selbst erstaunt waren, dass eine knappe Mehrheit für den Austritt gestimmt hat.

Die britische Regierung unter Premierministerin May, die selbst für den Verbleib in der EU geworben hatte, versucht nun, das demokratische Votum umzusetzen. Mittlerweile gibt es einen Meinungsumschwung zugunsten der EU in der britischen Bevölkerung.

Welche Figur macht Theresa May?

Das Problem für Frau May ist, dass die regierenden Konservativen in dieser Frage gespalten sind. Es gibt den Flügel, der den Austritt in einem ordentlichen Verfahren umsetzen will, es gibt eine kleine Gruppe, die den EU-Verbleib möchte und bis zu 100 Abgeordnete, die offenbar einen ganz harten Brexit in Kauf nehmen. Darunter werden manche sein, die am Dienstag nicht für den Kurs der Premierministerin stimmen werden. Vor Weihnachten hatten 117 Abgeordnete aus der konservativen Fraktion mit einem Misstrauensantrag versucht, Frau May zu stürzen. Sie hat den Antrag überstanden. Sie versucht nun, das Beste aus einer sehr schweren Situation zu machen.

Was würde ein harter Brexit, also ein Austritt ohne vertragliche Regelung, für die Briten bedeuten?

Der ungeordnete, chaotische Brexit ist die denkbar schlechteste Alternative. Das hätte verheerende Folgen. Das würde bedeuten, dass das Vereinigte Königreich ab dem 30. März um Mitternacht unserer Zeit ein Drittland wäre. Zollkontrollen wären die Folge. Dafür ist die Infrastruktur auf beiden Seiten überhaupt nicht vorhanden. Die EU-Staaten treffen erste Vorbereitungen, denn die Gefahr eines harten Brexits besteht.

Was bedeutet ein harter Brexit für die EU und für Deutschland?

Das Vereinigte Königreich ist für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ein wichtiger Markt, besonders für die Automobil- und Flugzeugindustrie, den Maschinenbau und die Chemie. Das wäre ein ganz erheblicher Einschnitt für die europäische Wirtschaft insgesamt, denn ganze Lieferketten von Waren wären von einem auf den anderen Tag unterbrochen. Trotzdem befürworten manche britische Abgeordnete in Kenntnis dieser Folgen einen „No Deal Brexit“. Das ist völlig unverantwortlich! Zum Glück haben sie keine Mehrheit. Verständigt sich das Unterhaus allerdings nicht auf einen konstruktiven Vorschlag, könnten die Briten schlafwandelnd auf einen harten Brexit zulaufen.

Ist eine Fristverlängerung noch denkbar?

Dazu bräuchte es zunächst einen Antrag von britischer Seite. Frau May hat das bislang ausgeschlossen. Danach müssten die 27 EU-Staaten einvernehmlich einer Verlängerung zustimmen. Letztlich kommen die Abgeordneten in London nicht umhin, die Grundsatzentscheidung zu treffen, ob sie das Austritts-Abkommen billigen oder nicht. Das letzte Wort hat das Europäische Parlament, denn auch wir haben die Interessen unserer Bürger und Unternehmen zu wahren.

Bei der Besetzung der Listenplätze der AfD für die Europawahl im Mai lässt sich erkennen, dass es einen Hang zu einem deutschen Austritt aus der EU in der Partei gibt. Ist die AfD die Dexit-Partei?

Herr Meuthen, der Bundesvorsitzende der AfD, sitzt im Europäischen Parlament in der Fraktion, in der auch Nigel Farage von Ukip sitzt. Das ist die Partei, die den ganzen Brexit-Unsinn losgetreten hat. Der Entwurf des Europa-Wahlprogramms der AfD schließt einen Austritt Deutschlands aus der EU nicht aus. Die AfD ist in der Tat die Dexit-Partei. Wer solche unübersichtlichen politischen Zustände wie im Vereinigten Königreich auch in Deutschland will, der muss AfD wählen. Wer politische Stabilität, Wohlstand und eine verlässliche europäische Zusammenarbeit möchte, der kann nicht die AfD wählen. Es geht darum, die EU besser zu machen!

Angesichts des Brexits und des Zuspruchs für Populisten in ganz Europa: Welche Bedeutung hat die Europawahl?

Diese Europawahl sollte ernster genommen werden, als es bei den Vorgängerwahlen der Fall war. Es handelt sich um eine Richtungsentscheidung: Wollen wir, dass noch mehr Demagogen und Populisten vom rechten und vom linken Rand in das Europäische Parlament einziehen? Je stärker dies der Fall sein wird, umso schwieriger wird es sein, eine vernünftige Politik zu machen. Das Europäische Parlament ist mittlerweile ein gleichberechtigter Gesetzgeber. Die Abgeordneten beschließen den Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten. Die Populisten haben sehr unterschiedliche Auffassungen in Detailfragen. Sie eint aber, dass sie die EU ablehnen. Sie stellen den Binnenmarkt und die gemeinsame Währung infrage. Diese Entwicklung ist brandgefährlich. Es wird eine harte Auseinandersetzung. Das beste Rezept gegen Radikale ist eine hohe Wahlbeteiligung am 26. Mai.

Warum hat gerade in dieser schwierigen Zeit Rumänien die EU-Ratspräsidentschaft inne? Der rumänischen Regierung wird Korruption vorgeworfen.

Rumänien ist turnusmäßig an der Reihe, es ist die erste Ratspräsidentschaft. Wir können uns die Regierung in Bukarest nicht aussuchen. Die Politik der sozialistischen Regierung kritisiere ich scharf, aber sie ist demokratisch gewählt. Organisatorisch können die Rumänen die sechs Monate über die Bühne bringen. Es gibt aber Bedenken, ob die rumänische Regierung sich bewusst ist, was es bedeutet, den Vorsitz über die EU-Länder zu führen. Manche Minister sind frisch im Amt, sie hatten kaum Zeit, um sich in komplizierte Dossiers einzuarbeiten. Dass die rumänische Regierung faktisch in den Händen des sozialistischen Parteivorsitzenden Liviu Dragnea liegt, der nicht Ministerpräsident sein darf, weil er vorbestraft ist, erschwert die Ratspräsidentschaft zusätzlich.

In Brüssel herrschte mal mehr Harmonie. Griechen und Italiener werfen den Deutschen vor, sich an ihrer Not zu bereichern. Die Deutschen kontern, die Südländer wollten nur an ihr Geld. Was ist in den vergangenen Jahren zerbrochen?

Die Länder im Süden Europas haben den Ländern im Norden vorgeworfen, sie würden zu hart vorgehen. Der Norden hat den Süden umgekehrt angemahnt, Reformen nicht konsequent genug anzugehen. Es gilt das Prinzip des Förderns und Forderns. Portugal, Irland und Zypern haben sich wirtschaftlich erholt. Das ist positiv. Es gibt auch Differenzen in der Flüchtlingspolitik zwischen West und Ost. Die EU wird immer davon geprägt sein, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt. Entscheidend ist, dass am Ende alle Beteiligten zu tragfähigen Kompromisse bereit sind. Das ist in der Tat schwieriger geworden. Wie Kommissionschef Jean-Claude Juncker es formuliert hat: Die EU muss mit beiden Lungenflügeln atmen: dem west- und dem osteuropäischen. Es ist Zeit, wieder mehr Brücken in Europa zu bauen und Gemeinsamkeiten zu suchen.

Speziell Polen und Deutsche verstanden sich schon einmal besser. Warum argwöhnen etliche Polen, Berlin wolle via Brüssel doch noch Europa beherrschen?

Die Polen haben ihre Freiheit gegen die kommunistische Diktatur sowie gegen den Einfluss der Sowjetunion zurückgewonnen und damit ihren aktiven Beitrag zum Fall der Mauer und zur deutschen Wiedervereinigung geleistet. In den noch jungen Demokratien in Osteuropa ist zum Teil ein Gefühl verbreitet, dass die EU die neue Freiheit beschneidet. Diesen Eindruck teile ich nicht. Man muss die Sorgen der Menschen jedoch ernst nehmen und noch deutlicher machen, dass wir in Europa nur vereint gegenüber Mächten wie den USA, Russland oder China Augenhöhe finden.

Die Franzosen haben mit Emmanuel Macron den ersten großen Präsidenten seit François Mitterrand. Warum reden die Franzosen Macron klein?

Präsident Macron hat historisch niedrige Zustimmungswerte. Das ist eine innerfranzösische Debatte. Es geht vor allem um die umstrittenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Er hat Fehler eingeräumt, in der Kommunikation, aber auch in inhaltlichen Punkten. Dass sich Frankreich schnell wieder stabilisiert, hoffe ich. Die Gelbwesten-Bewegung ist zum Teil von Rechts- und Linksradikalen gekapert worden. Es ist gut, dass wir einen Präsidenten im Élysée-Palast haben, der sich in die Debatte um die Zukunft Europas einbringt. Zuvor war es um die europapolitischen Initiativen aus Paris ruhig geworden.

Warum leistet sich die EU – in Zeiten der Abwendung der USA und der aggressiven Zuwendung Russlands und Chinas – 28 verschiedene Armeen?

Die EU, die vor allem als wirtschaftliches Projekt gegründet wurde, muss endlich unser außen- und sicherheitspolitisches Schicksal mehr in die eigenen Hände nehmen. Ziel ist es deshalb, eine Verteidigungsunion bis zum Jahr 2025 zu schaffen. Die 28 EU-Staaten geben zusammen fast die Hälfte des US-Verteidigungsbudgets aus, erzielen aber nur etwa zehn Prozent der amerikanischen Effizienz. Mit mehr europäischer Zusammenarbeit, Forschung und Entwicklung bis hin zu gemeinsamer Beschaffung und Betrieb von militärischen Gütern sorgen wir für geringere Kosten und dafür, dass die Systeme verschiedener Streitkräfte besser als bisher zusammenarbeiten können. Dies sind Schritte auf dem Weg zu einer Armee der Europäer.

Vom Ministerpräsidenten zum europapolitischen Hoffnungsträger der CDU

David McAllister (48) wurde als Sohn einer Deutschen und eines Briten in West-Berlin geboren. Sein Vater stammt aus Glasgow, war als Zivilbeamter der britischen Armee an verschiedenen Dienststellen in Deutschland stationiert. In Bad Bederkesa bei Cuxhaven machte McAllister sein Abitur. Er studierte Jura in Hannover, wurde als Rechtsanwalt zugelassen. Von 1998 bis 2014 war das CDU-Mitglied Abgeordneter im Landtag von Niedersachsen. Von 2003 bis 2010 führte er die CDU-Fraktion im Landtag, 2010 löste er Christian Wulff als Ministerpräsident ab. McAllister wechselte 2014 ins Europaparlament, ist seit 2015 Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP) und seit 2017 Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments.