Braunschweig. Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel sagt als „Orakel“ für 2019 den fortschreitenden Niedergang der „alten“ Volksparteien voraus.

Professor Ulrich Menzel blickt als „Polit“-Orakel für unsere Zeitung in die Zukunft. Dirk Breyvogel sprach mit ihm unter anderem über das deutsche Parteiensystem, das sich laut dem Politikwissenschaftler in einem strukturellen Umbruch befindet.

Werden die alten Volksparteien im Jahr 2019 weiter an Bedeutung verlieren?

Ihr Zuspruch wird weiter nachlassen. Für die SPD ist das bereits manifest und hat auch schon früher begonnen als bei der Union. Der Hauptgrund dafür ist, dass die kirchlichen oder gewerkschaftlichen Milieus, die früher die CDU oder die SPD getragen haben, immer mehr zerbröseln. Mit den Grünen formiert sich dagegen eine neue Volkspartei, die sich am Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie orientiert.

Professor Ulrich Menzel während der Leser-Veranstaltung Orakel – was erwartet uns 2019?
Professor Ulrich Menzel während der Leser-Veranstaltung Orakel – was erwartet uns 2019? © Philipp Ziebart/BestPixels.de | PHILIPP ZIEBART

Unsere Leserin Linda Löhr fragt: Die CDU hat sich mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer neu aufgestellt. Glauben Sie, dass sie auch wieder Wähler von der AfD oder anderen Parteien für die CDU gewinnen kann?

Nur bedingt. Die CDU verliert in drei Richtungen – die eher kosmopolitischen Wähler an die Grünen, die wirtschaftsliberalen an die FDP und die nationalkonservativen an die AfD. Das Trilemma besteht darin, dass die Kurskorrektur zugunsten einer der drei Richtungen zu Lasten der beiden anderen geht. In den neuen Bundesländern ist die CDU keine Volkspartei mehr, weil sie dort dem doppelten Druck von Links- und Rechtspopulisten erliegt. In den alten wohlhabenden Bundesländern, vor allem in den großen Städten, verliert sie an die Grünen. Stark bleibt sie überall da, wo das kirchliche, vor allem das katholische Milieu, noch halbwegs intakt ist.

Werden die Grünen in diese Lücke stoßen?

Die Grünen profitieren von dem wachsenden, aufgeklärt-bürgerlichem Milieu, das gebildet ist, gut verdient, weltoffen ist und vornehmlich in den deutschen Großstädten lebt. Die Grünen sind heute keine Protestpartei mehr, sondern die Repräsentanten des kosmopolitischen Milieus, das zu den Gewinnern der Globalisierung gehört. Diese setzen darauf, Probleme transnational und nicht national zu lösen. Der Aufstieg der Grünen hat nicht nur einen sozioökonomischen Grund, sondern auch eine (multi-)kulturelle Dimension und wird daher von Dauer sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der erste grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck heißen wird. Er repräsentiert wie kein Zweiter den Wegfall des alten Dogmatismus, der diese Partei jahrzehntelang geprägt hat.

Gleichzeitig profitiert auch die AfD. Sie sitzt in allen 16 Landesparlamenten und ist die größte Oppositionspartei im Bundestag. Wird ihr Höhenflug weitergehen?

Davon ist auszugehen. Diese Partei ist der eigentliche Gegenpol zu den Grünen. Sie profitiert von der Zustimmung aus dem Lager der sog. Kommunitaristen, die die sich in der globalisierten Welt abgehängt fühlen. Auch diese Gruppe wächst und demonstriert mit ihrem Wahlverhalten die Unzufriedenheit mit dem etablierten politischen System. Dieses Milieu speist sich aus denen, die Einwanderung nicht als Chance, sondern als Bedrohung und als weitere Ursache für den eigenen sozialen Abstieg empfinden. Das Milieu hat sich in den sozialen Brennpunkten westdeutscher Großstädte und in Ostdeutschland auch in der Fläche gebildet. Hier formiert sich Widerstand, der an die französischen Gelbwesten erinnert.

Was bedeutet das für die Wahlen in Ostdeutschland 2019?

Weil in Ostdeutschland die kosmopolitische Wählerklientel klein ist, ist vorstellbar, dass die AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgeht. Hinzu kommt die dortige Stärke der Linkspartei. Auch sie rekrutiert ihre Wähler unter denen, die sich noch immer als Vereinigungsverlierer sehen. Es kann also sein, dass es mancherorts eine rechnerische Mehrheit von AfD und Linke geben wird. Dann haben wir Verhältnisse wie in Italien, wo Links- und Rechtspopulisten zusammen regieren. Zumindest kann es sein, dass in Ostdeutschland selbst Dreierbündnisse nicht ausreichen, um eine Mehrheit zu bilden.

Wie ist die Lage der SPD? Hatte Juso-Chef Kevin Kühnert Recht als er warnte, die Sozialdemokratie führe mit dem Eintritt in die Groko ihren eigenen Niedergang herbei?

Es ist nicht die Frage, ob man Oppositionspartei ist oder in der Regierung sitzt. In Bayern ist die SPD eine marginale Kraft, obwohl sie dort seit den 1950er Jahren nie in der Regierungsverantwortung stand. Es ist auch keine Frage weiterer personeller Wechsel. Aufgrund des strukturellen Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft ist die SPD in einer Dilemma-Situation.

Was heißt das konkret?

Wenn sie wieder auf ihre alte Wählerschaft aus dem gewerkschaftlichen Milieu setzt, wird sie weiter an Stimmen verlieren, weil es immer weniger Menschen gibt, die sich diesem zugehörig fühlen. Setzt sie auf neue Wählergruppen wie in der Schröder-Ära, verliert sie den Rest der alten. Eine klassische Lose-lose-Situation. Ich prognostiziere, dass der deutschen Sozialdemokratie perspektivisch das droht, was ihren Parteifreunden in anderen europäischen Staaten bereits passiert ist: der Abstieg in die politische Randständigkeit.

Unser Leser Gert Thiele fragt sich, was mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) passiert. Wird sie trotz des „politischen Gewurschtels“ in den vergangenen Monaten bis 2021 noch regieren können?

Denkbar ist, dass der „Andenpakt“, ein einst geschmiedetes Männerbündnis von konservativen CDU-Politikern, nicht aufgibt und Friedrich Merz weiter anstrebt, Kanzlerkandidat der Union zu werden. Die vorzeitige Ablösung der Kanzlerin war das eigentliche Ziel seiner Kandidatur zum Parteivorsitz. Durch die Wahl von Kramp-Karrenbauer zur neuen CDU-Chefin kann Merkel ihren Plan A weiterverfolgen. „AKK“ deckt ihren Kurs, um den gleitenden Übergang zu flankieren und wird bei passender Gelegenheit ins Kabinett geholt. Oder es stellt sich heraus, dass Merkel als „Lame Duck“ nicht Kanzlerin bleiben kann. Dann tritt sie vorzeitig zurück und Kramp-Karrenbauer folgt ihr. Das würde die SPD mittragen, weil sie Neuwahlen am meisten fürchtet.

Hat die basisdemokratische Prozedur, die die Kandidaten auf den CDU-Vorsitz durchlaufen mussten, die Partei geeint?

Nein. Der Parteitag und das knappe Ergebnis zugunsten von „AKK“ zeigen, dass ein tiefer Riss durch die Partei geht. Bei der Frage, wie auch die CDU verlorene Wähler zurückgewinnen kann, gibt es die, die an Merkels Strategie glauben. Sie setzen darauf, dass nur in der Mitte die Mehrheit zu holen ist. Denen stehen die gegenüber, die sagen, man müsse wieder das konservative Milieu überzeugen. Es ist im Prinzip ein Nullsummenspiel. In dem einen Fall würde man Wähler an die Grünen, in dem anderen Fall an die AfD verlieren. Mit Kramp-Karrenbauer ist die Wahrscheinlichkeit größer geworden, dass Merkels Kurs fortgesetzt wird.

Die Migrationsfrage hat 2018 fast zu einem Zerwürfnis der Schwestern CDU und CSU geführt. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat da offen den Konflikt mit der Kanzlerin gesucht. Wird es 2019 zu den angekündigten Rücknahmeabkommen bereits registrierter Flüchtlinge kommen?

Für mich reine Symbolpolitik, denn die Fallzahlen sind äußerst gering. Das war ein absurdes Theater, das sich zwischen CDU und CSU abgespielt hat. Ob es am Ende überhaupt zu einem Abkommen mit Italien kommen wird, da habe ich meine Zweifel. Der italienische Innenminister Matteo Salvini von der Lega Nord wird keinem Vertrag zustimmen, der dazu führt, dass sein Land substanziell mehr Flüchtlinge zurücknehmen muss.

Sie sehen also keine europäische Lösung in dieser Frage?

In Europa stehen bei der Flüchtlingsfrage viele Ampeln auf Rot, weil überall die Angst besteht, die Populisten könnten davon weiter profitieren. Deutschland liegt in der Mitte von Europa und ist Ziel vieler Migranten. So zynisch es auch klingt: Jedes Schiff, das Salvini an der Küste Italiens abweist, führt indirekt dazu, dass die, die nach Deutschland kommen könnten, weniger werden. Das wichtigste Abkommen ist in dieser Hinsicht weiter das mit der Türkei und wird es auch 2019 sein.

Hat Europa als politische Idee überhaupt eine Zukunft?

Auch hier stellt sich die Frage, welche politischen Grundhaltungen sich durchsetzen. Darüber wird die Europawahl Aufschluss geben. Werden die gestärkt, die die Kompetenzen der EU stützen oder die, die gemeinsamen Lösungen misstrauen und nationale Interessen voranstellen. Diese Alternative betrifft viele politische Fragen, auch wenn die Debatte über das Thema Migration mit einer ganz besonderen Emotionalität geführt wird. Sie ist ein Grund, warum Großbritannien Europa verlassen wird. Die englische Variante des Trump-Wählers ist der, der für den Brexit gestimmt hat. Auch in vielen osteuropäischen Ländern besteht eine große Distanz zu den Ideen, für die Brüssel steht.

Wird sich US-Präsident Donald Trump und dessen Stil, Politik zu machen, im Jahr 2019 ändern?

Die USA befinden sich in einem hegemonialen Dilemma. Es besteht zwischen dem Status- und dem Positionsverlust. Die USA verlieren ihre Position als wirtschaftliche Führungsmacht durch die Konkurrenz von China. Um diesen Verlust abzuwehren, greifen sie zu protektionistischen Maßnahmen. Damit verlieren sie den Status als liberale ordnungspolitische Führungsmacht. Die USA standen für ein Weltwirtschaftssystem mit dem Freihandel als Markenkern. Doch die Angst, wirtschaftlich weiter an Position zu verlieren, treibt Trump um. Das zeigen seine Slogans „America first“ und „Make America great again“ sehr anschaulich. Davon wird er sich nicht abbringen lassen, das erwarten seine Wähler.

Welche Rolle wird China spielen?

Auch China steckt in einem Dilemma. Das Land ist bei aller wirtschaftlichen Kraft geopolitisch und militärstrategisch noch ein „Trittbrettfahrer“ der USA. Es profitiert von deren Rolle als Ordnungsmacht. Wenn die USA zum Beispiel ihre Flotten einsetzen, um die weltweiten Schifffahrtsrouten zu sichern, nützt das auch Peking. Wenn diese Rolle durch Trump in Frage gestellt wird, muss der „Trittbrettfahrer“ China sie selber übernehmen und die Kosten tragen.

Wie könnte das aussehen?

Es ist mit enormen Anstrengungen verbunden. Aber China hat schon längst damit begonnen. Besonders das Projekt der neuen kontinentalen und maritimen Seidenstraße steht dafür. Sie soll die Zeit für den Warentransport nach Europa verkürzen und in Asien und Afrika geopolitischen Einfluss sichern. Es ist kein Zufall, dass chinesische Investoren in Dschibuti am Eingang des Roten Meeres Fuß gefasst haben und als Griechenland vor dem Finanzkollaps stand den Hafen von Piräus gekauft haben.

Warum stößt Trump Verbündeten immer wieder vor den Kopf?

Die USA unter Trump setzen nicht nur auf Protektionismus, sondern auch darauf, Lasten zu verteilen. Der Streit um die Rüstungsausgaben der Nato macht das deutlich. Ich bin mir sicher, dass auch ein anderer Präsident, auch eine Demokratin wie Hillary Clinton, einen ähnlichen Kurs fahren würde, nur diplomatischer und partnerschaftlicher. Meine Prognose lautet, dass China dennoch etwa 2030 die USA als internationale Führungsmacht abgelöst haben wird. Da kann sich Trump auf den Kopf stellen. Die Chinesen werden aber nicht die Rolle der USA einfach so übernehmen, sondern eine Weltordnung nach eigener Fasson errichten, die wesentlich bürokratischer, staatsinterventionistischer und weniger marktfreundlich ist.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert eine europäische Armee. Wird das das neue europäische Vorzeigeprojekt oder ein Rohrkrepierer?

Die Bundeswehr ist immer noch dabei, den Systemwechsel von einer Verteidigungsarmee wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts zu einer weltweiten Interventionsarmee zu bewerkstelligen. Dieser ist heute noch nicht einmal halb geschafft. Die Bundeswehr ist nicht einmal in der Lage, ihr schweres Gerät mit eigenen Transportmaschinen nach Afghanistan zu bringen. Jetzt, wo der Konflikt mit Russland an den Nato-Grenzen an Schärfe gewinnt, wird der Salto rückwärts versucht und werden die Waffensysteme wieder in Richtung Landesverteidigung umstrukturiert.

Daher kommt der Vorstoß von Macron zur Unzeit. In Zeiten des neuerlichen Umbruchs eine weitere verteidigungspolitische Variante ins Spiel zu bringen, ist unrealistisch. Eine europäische Armee besitzt keine Legitimation. Die Franzosen werden nicht bereit sein, ihr Atomwaffenarsenal einem europäischen Oberbefehl zu unterstellen. Und die Engländer verabschieden sich gerade aus einer gemeinsamen europäischen Verantwortung. Das ist ein Vorschlag, der zum Scheitern verurteilt ist.

Prof. Ulrich Menzel wurde 1947 in Düsseldorf geboren. Er habilitierte 1982 im Fach Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt. Von 1993 bis 2015 war er Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre, von 2004 bis 2015 Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig.

Menzels Spezialgebiete sind u.a.: die Theorie und Geschichte des Internationalen Systems, die Entwicklungstheorie, die Friedens- und Konfliktforschung.

Zuletzt erschien 2015 sein Buch „Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt“ im Suhrkamp Verlag, Berlin