Braunschweig. Beim Leserforum fordert Sigmar Gabriel mehr Einsatz. Man dürfe das Feld nicht „Fleischfressern“ wie Trump und Erdogan überlassen.

Wie soll sich Europa gegenüber Russland verhalten?

Das fragte Ulrich Kühnast beim
Leserforum unserer Zeitung.

Die Antwort recherchierte
Andre Dolle.

Vor nicht einmal einem Jahr wurde Sigmar Gabriel kaltgestellt. Ganz einfach abserviert. Das neue SPD-Machtduo Andrea Nahles und Olaf Scholz fürchtete, Gabriel würde als freies Radikal im Kabinett dem Ganzen eher schaden. Seine zuweilen an den Tag gelegte destruktive Unberechenbarkeit war gefürchtet.

Ein Kampf ging zu Ende. Das Amt des Außenministers, das er bis Anfang des Jahres bekleidete? Nichts für Anfänger. Zuvor hatte er schon den SPD-Vorsitz abgeschüttelt. Und nun, beim Leserforum im BZV-Medienhaus in Braunschweig, saß da am Donnerstagabend das politische Naturtalent und wirkte sichtlich befreit. Keine Zwänge, kein Amt mehr.

Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung und Moderator des Abends, kündigte Gabriel mit den Worten an: „Viele haben bedauert, dass Sie der Parteiräson weichen mussten.“ Wohlwollender, fast schon herzlicher Applaus kam unter den 350 Zuhörern auf. Es war ein Heimspiel für den Goslarer.

Gabriel stellte sein neues Buch vor. „Zeitenwende in der Weltpolitik“ heißt es. Er drehte an diesem Abend das ganz große Rad. Im Buch geht es um die Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt. Gabriel begann seine Ausführungen mit einem Modewort, das um sich greift, von dem aber keiner so richtig weiß, was es eigentlich heißen soll: der Digitalisierung.

Gabriel hat zwei kleine Töchter und eine große. Seine 30-jährige Tochter, sagte er, die will gar kein Auto mehr besitzen. „Sie will Mobilität. Die geht nicht zum Autohändler, sondern ins Internet.“ Sie gehe nicht zu Audi oder VW, sondern zu Google. Was er damit meinte, führte Gabriel nicht weiter aus. Wahrscheinlich nutzt seine Tochter Car-Sharing oder ähnliches. Was er damit sagen wollte, wurde gerade in unserer Autoregion jedoch klar: „Die Wertschöpfung wandert vom Produkt auf die Datenplattformen.“ Das Bedrohliche daran: „Die Daten sind nicht mehr im Besitz unserer Konzerne, sondern im Besitz von fünf amerikanischen Firmen, bald vielleicht von zehn chinesischen Firmen.“ Der SPD-Politiker schlussfolgerte: „Das ist eine dramatische Veränderung unseres Wirtschaftssystems.“ Hinzu komme: „Diese Firmen zahlen in Deutschland keine Steuern und keine Sozialbeiträge.“

Sigmar Gabriel spricht zum Thema Grenzzäune.

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    „Wir leben in Zeiten, die sich rasend schnell verändern“, sagte Gabriel. Gerade Deutschland als Exportnation sei verletzbar. „Der Protektionismus, den US-Präsident Trump will, trifft uns als erste.“ Die Zeiten, in denen sich Deutschland um seinen Sozialstaat kümmern konnte und die USA für die Sicherheit sorgte, die seien vorbei.

    Laut Gabriel haben die Deutschen, haben die Europäer großen Nachholbedarf in der Außen- und Sicherheitspolitik. Was gerade wir Deutschen dagegen gut beherrschen, so seine These, das ist das Moralisieren. „Europa muss sich mehr einmischen, sonst spielen andere mit uns.“ Die anderen, das sind zum Beispiel die USA mit Donald Trump, Russland mit Wladimir Putin an der Spitze oder die Türkei mit Recep Tayyip Erdoğan. Das seien die „Fleischfresser“, wie Gabriel sie nannte. Die Europäer seien die Vegetarier. Völlig harmlos.

    Aus der Sicht vieler ausländischer Staatsmänner sei Europa schwach. „Die finden uns komisch. Aus deren Sicht haben wir keinen richtigen Chef, wollen nur reden.“ Deutschland werde nur so lange ernst genommen, wie es wirtschaftlich stark sei. „Deutschland ist aber zu groß und zu wichtig, um nur an der Seitenlinie zu stehen.“

    Trump sehe die Welt als Arena, als Kampfbahn, in der nur der Stärkste gewinnt. Wie zum Beispiel die Türkei unter Erdogan tickt, hätten viele Deutsche aber noch gar nicht verstanden, sagte Gabriel. Er verwies auf die Titelgeschichte des „Spiegel“ vor einigen Monaten. Auf der Titelseite standen Erdogan, Trump, Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping. Lauter Autokraten. Erdogan aber habe den Spiegel-Titel bei einer Massenveranstaltung 100.000 Türken gezeigt. Gabriel: „Denen war sofort klar: Wir spielen in einer Liga mit Russland, den USA und China.“ Der Inhalt des kritischen Artikels sei den Türken egal gewesen.

    Gabriel nannte ein Beispiel für eine veränderte Weltordnung, die nicht mehr so sehr auf Bündnisse wie die Nato, sondern auf bilateralen Verträgen beruhe. Gerade die USA unter Trump, aber auch Russland und vor allem China würden dieses Vakuum sehr geschickt mit Verträgen füllen. Der Iran, so Gabriel, verstehe ganz genau: „Hast du die Atombombe nicht, verhandeln die Europäer mit dir, aber Trump kommt mit Sanktionen. Hast du die Bombe aber, verhandelt selbst Trump mit dir.“

    Gabriel begrüßte den Stopp der Rüstungsexporte an Saudi-Arabien nach der Tötung des regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi. Er habe selbst in seiner Zeit als Außenminister eine Reihe von Auseinandersetzungen mit Saudi-Arabien geführt – unter anderem habe er eine Waffenlieferung von 250.000 deutschen Sturmgewehren gestoppt, die Kanzlerin Angela Merkel habe genehmigen wollen.

    Auf die Frage unseres Lesers holte Gabriel aus. „Das Kapitel zu Russland ist mir beim Schreiben am schwersten gefallen“, sagte er. Er sei 1980 zum ersten Mal in Russland gewesen, sei auf eine sehr offene und herzliche Bevölkerung getroffen. „Ich war erstaunt.“ Man dürfe den Russen gegenüber aber nicht naiv sein. Vor allem dürfe es keinen deutschen Sonderwege geben. „Wir verlieren sonst die Polen, die Tschechen, die baltischen Staaten“ – alles Länder des ehemaligen Warschauer Pakts oder Teilrepubliken der Sowjetunion. Gabriel verriet auf Nachfrage von Moderator Maus, dass er sich mit Putin duze. „Er ist Deutschland sehr offen gegenüber.“

    Gabriel schwante: „Wenn Putin nicht mehr an der Macht sein sollte, wird die Beziehung zu Russland womöglich noch schwieriger.“ Putin sei ein ausgewiesener Deutschland-Kenner, schaue deutsches Fernsehen und lese deutsche Zeitungen. Putin war einst als KGB-Agent in Dresden stationiert, spricht fließend Deutsch. „Der korrigiert sogar Dolmetscher.“ Putin habe Russland wieder handlungsfähig gemacht. „Unter Jelzin herrschte Anarchie.“ Er habe Putin jedoch gefragt: „Wie kannst du in Syrien gemeinsame Sache mit Assad machen?“ Machtmensch Putin habe bloß geantwortet: „Ein Krieg muss gewonnen werden.“ Andererseits sei Putin sehr menschlich. „Wenn Sie Zahnschmerzen haben, schickt der Ihnen sofort einen Arzt.“ Man müsse nur wissen, welche Rolle Putin gerade einnehme, sonst könne es unangenehm werden.

    „Wir müssen mit Putin wieder ein vernünftiges Verhältnis hinbekommen“, sagte Gabriel. „Das geht nur über die Ukraine. Wir müssen über den Bürgerkrieg in der Ostukraine reden.“ Die Unzufriedenheit über die USA unter Trump wachse in Russland. Solange diese Unzufriedenheit wachse und Putin noch im Amt ist, ergebe sich womöglich ein Zeitfenster, in dem sogar Blauhelmtruppen in der Ostukraine möglich wären, hofft Gabriel.

    Die Welt werde unbequemer. Ohne die USA werde Deutschland gefragt werden, sagte Gabriel. Die Mehrheit in Europa und der Welt schaue mit großem Respekt auf Deutschland. „Die haben gemerkt: Deutschland zieht die anderen nicht über den Tisch.“

    Ganz wichtig sei es jetzt, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron bei seinem Vorhaben, Europa zu festigen und weiter zu einigen, zu unterstützen. „Wir dürfen Macron nicht am langen Arm verhungern lassen“, sagte Gabriel. „Es geht um unseren eigenen Wohlstand. 60 Prozent unserer Exporte führen wir innerhalb Europas aus.“

    Die USA wollten nicht weiter, dass sie 70 Prozent der Verteidigungslast in der Nato übernehmen, so Gabriel. „Da ist was dran“, sagte er. Auch Deutschland müsse den Verteidigungsetat erhöhen. Gabriel machte einen Vorschlag, wie das aussehen kann: „Deutschland kann schrittweise 1,5 Prozent des BIP in seine Verteidigungsfähigkeit investieren und 0,5 Prozent in die von Europa. Die Lösung würde zeigen, dass die Deutschen bereit sind, Verantwortung für das öffentliche Gut Sicherheit zu übernehmen. Sie demonstrierten damit eine Verantwortungsbereitschaft für Europa, die bislang nur von den USA getragen wurde.“

    Sigmar Gabriel zum Thema Seehofer.

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      „Ich spinne einfach mal“, fuhr Gabriel fort: „Warum bieten wir Frankreich nicht eine Konföderation mit Deutschland in der Sicherheitspolitik an?“ Zu deren Beginn könne sich jeder Soldat aussuchen, in welcher Armee der beiden Länder er seinen Dienst antreten will. „Das wäre ein Modell, dem sich andere EU-Staaten anschließen könnten. So würden wir Voraussetzungen für eine eng miteinander verbundene militärische Sicherheitsarchitektur schaffen, die in einer europäischen Armee münden könnte.“ Diese sollte die Nato nicht ersetzen, sondern eine effiziente europäische Struktur innerhalb der Allianz sein.

      Das hörte sich alles sehr gut an. Maus sagte, dass Gabriel selbst doch lange Verantwortung getragen habe. „Warum nehmen die kleinen Fragen oft so einen großen Raum ein, warum gehen solche großen Fragen im Tagesgeschäft oft unter?“ Gabriel antwortete: „In jeder Demokratie gibt es Zustände der Erschöpfung.“ Es hätte einen Regierungswechsel geben müssen, leider sei die FDP in den Koalitionsverhandlungen zur Jamaika-Koalition abgesprungen. „Kanzlerin Merkel weiß selbst, dass diese Legislatur eine zu viel ist.“ Ein Wort für Horst Seehofer hatte Gabriel auch noch übrig. Der CSU-Mann erinnere ihn an eine Figur in der Klamauk-Serie „Väter der Klamotte“. Denn, so Gabriel: „Da gab es auch einen, der hat an jeder Tür gerüttelt, aber nie den richtigen Ausgang gefunden.“

      Auf die Frage, wie er die Lage seiner SPD einschätzt, übte Gabriel Kritik an den Genossen. Zu akademisiert seien viele Abgeordnete. Sie müssten die Leute wieder ernst nehmen, rausgehen.

      Das erinnerte an seine bekannte Rede auf dem SPD-Parteitag in Dresden im November 2009. Die SPD, sagte er damals, müsse wieder raus ins Leben, dahin, wo es brodele, manchmal rieche und gelegentlich stinke. Sieben Jahre lang stand Gabriel an der Spitze der SPD. Länger als jeder andere seit Willy Brandt. Er gab beim Leserforum zu: „Ich bin am Montagmorgen mit Magendrücken nach Berlin gefahren.“ Heute würde die neue Parteispitze merken: „Es ist nicht so einfach, diese Partei zu führen.“