Braunschweig. . Deniz M., Bruder des inhaftierten Braunschweiger Hüseyin M, bezeichnet im Interview die Vorwürfe als absurd. Sein Bruder sitzt seit August in U-Haft.

Nach offiziellen Angaben sind fünf Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei in Haft. Einer von ihnen ist der Braunschweiger Hüseyin M. Sein Bruder Deniz M. äußert sich im Interview erstmals ausführlich über seinen Bruder. Die Hoffnung ist groß, dass Hüseyin M. bald zu Hause ist. Mit Deniz M. sprach Andre Dolle.

Wie geht es Ihrem Bruder?

Am Mittwoch konnte mein Bruder zum ersten Mal, seit er in U-Haft ist, mit meiner Schwägerin telefonieren. Es geht ihm gut. Er ist voller Hoffnung, dass er das Gefängnis bald verlassen kann. Das war sehr erleichternd.

Die türkische Polizei hat Ihrem Bruder das Handy abgenommen. Einen direkten Kontakt hatten Sie zu Ihrem Bruder seit seiner Inhaftierung Ende August also noch nicht?

Ganz genau.

Wie sind seine Haftbedingungen?

Seine Schwiegereltern haben versucht, ihm Kleidung und persönliche Dinge vorbeizubringen. Das wurde nicht erlaubt. Ansonsten hat er gesagt, dass die Justizvollzugsanstalt in Söke bei Izmir ganz neu und sauber ist.

Was geschah genau in der Nacht vom 24. auf den 25. August in der Türkei?

Mein Bruder und seine Frau haben die Schwiegereltern in Kudasi bei Izmir besucht, um in deren Ferienhaus Urlaub zu machen. In der Nacht stürmte eine Antiterroreinheit das Haus – als wenn mein Bruder ein Schwerverbrecher wäre. Sie haben meinen Bruder gesucht. Er hatte bei Facebook seinen Standort gepostet. Dadurch konnten sie ihn sehr leicht finden. Sie haben ihn direkt mitgenommen. Er wurde verhört und wurde erst wieder freigelassen. Am nächsten Tag wurde er der Haftrichterin vorgeführt. Mein Bruder soll Präsident Erdogan bei Facebook als „Diktator“ und als „Kindermörder“ bezeichnet haben. Die Behörden konnten auf seinem Account aber nichts finden. Er wurde deshalb erst wieder freigelassen.

Was geschah dann?

Schon kurz darauf wurde er jedoch ein drittes Mal festgenommen – wieder mitten in der Nacht. Mein Bruder ist ganz ruhig geblieben, hat kooperiert. Er wollte seine Schwiegereltern und meine Schwägerin nicht zusätzlich beunruhigen. Das Gericht hat gesagt, es bestehe Fluchtgefahr, weil er keinen festen Wohnsitz in der Türkei habe. Auch die Adresse seiner Schwiegereltern reichte den Behörden nicht.

Stimmen die Vorwürfe? Hat Ihr Bruder Erdogan beleidigt?

Ich habe die Anklageschrift in türkischer Sprache gelesen. Der Vorwurf ist vollkommen absurd. Er soll Erdogan 2014 und 2015 beleidigt haben. Das hat er nie gemacht. Ich bin bei Facebook mit ihm befreundet. Ich sehe doch, was er postet. Er hat Erdogan nie beleidigt. Das macht man nicht. Wir haben doch alle gesehen, wie der türkische Staat reagiert hat in den vergangenen Jahren, wie er gegen Andersdenkende und Kritiker vorgegangen ist.

Ist Ihr Bruder ein Erdogan-Kritiker?

Wir denken liberal. Auch er hat sich mal kritisch geäußert – aber nie beleidigend.

Wie haben die türkischen Behörden von der angeblichen Beleidigung erfahren?

Ein Unbekannter, der mit meinem Bruder bei Facebook befreundet ist, hat ihn bei den türkischen Sicherheitsbehörden denunziert.

Seit wann lebt Ihre Familie in Deutschland?

Mein Vater war schon seit den 60er Jahren hier. Wir sind 1989 hinterhergezogen. Die Familie wohnt in Salzgitter, mein Bruder wohnt mittlerweile in Braunschweig.

Fühlen Sie sich wohl hier?

Ich spiele hier Fußball, mein Bruder hat auch Fußball im Verein gespielt. Wir fühlen uns wohl hier, Deutschland ist unsere Heimat geworden.

Macht der deutsche Staat genug, um Ihren Bruder freizubekommen?

Ich habe in den vergangenen Wochen viel in den Medien verfolgt. Ganz besonders den Staatsbesuch von Erdogan in Deutschland. Da ist Bewegung drin. Ich hoffe sehr, dass sich die deutschen Behörden für meinen Bruder einsetzen. Davon gehe ich auch aus. Das war bei Deniz Yücel ja auch schon so. Yücel ist zwar ein bekannter Journalist, ein Prominenter. Ich hoffe aber sehr, dass Deutschland nun auch Druck auf den türkischen Staat ausübt. Mein Bruder sitzt ohne richtige Anklage, ohne einen richtigen Beweis, dass er Erdogan beleidigt hat, im Gefängnis. Ich bin mir sicher, dass der deutsche Staat das so nicht zulässt, dass er seine Staatsbürger schützt – auch im Ausland.

Unsere Zeitung hat erfahren, dass Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier vor dem Staatsbesuch Erdogans in einem schriftlichen Vermerk über die Situation der fünf in der Türkei inhaftierten Deutschen informiert wurde. Dabei wurde auch explizit Ihr Bruder erwähnt. Es geht also auch auf höchster Ebene um Ihren Bruder.

Das wusste ich noch gar nicht. Das erleichtert mich. Ich habe mit dem Salzgitteraner Landtagsabgeordneten Stefan Klein wegen meines Bruders telefoniert. Wir haben auch Ex-Außenminister Sigmar Gabriel eingeschaltet. Er hat seine Kontakte zum türkischen Staat bereits genutzt. Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Leute um meinen Bruder kümmern. Das war unser Ziel. Ich hoffe, dass das türkische Gericht ein faires Urteil fällt und mein Bruder bald wieder nach Hause darf.

Sie und Ihre Schwägerin haben auch das Auswärtige Amt und das Deutsche Generalkonsulat in Izmir kontaktiert, haben viele Hebel in Bewegung gesetzt. Was erhoffen Sie sich ganz speziell von Sigmar Gabriel?

Er hat ja schon dafür gesorgt, dass Deniz Yücel aus türkischer Haft entlassen wurde. Wir stehen in Kontakt mit dem Büro von Sigmar Gabriel. Mit ihm selbst habe ich in dieser Sache leider noch nicht gesprochen. Es ist aber sehr erleichternd, zu wissen, dass Sigmar Gabriel sich für meinen Bruder einsetzt. Ich weiß, dass er das hinter den Kulissen bereits gemacht hat.

Ist Ihre Schwägerin noch in der Türkei?

Nein, sie ist seit zweieinhalb Wochen wieder zu Hause. Sie ist auch berufstätig, arbeitet in Braunschweig, musste deshalb wieder zurück. Sie ist total fertig, hat große Angst. Sie war nicht begeistert, dass ich den Fall meines Bruders an die Öffentlichkeit gebracht habe. Mein Cousin ist Journalist und lebt in Frankfurt.

Ich habe mehrfach mit ihm über meinen Bruder geredet. Er hat mir Mut zugesprochen. Ich muss und will nicht ruhig bleiben. Ich weiß, dass mein Bruder völlig zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Er ist unschuldig. Er wird als politische Geisel gehalten. Mein Bruder ist ein deutscher Staatsbürger, er gehört hierhin, arbeitet hier. Deshalb bin ich in die Offensive gegangen. Ich hatte die Kontakte, konnte mit den Leuten reden. Wir können nicht auf das Urteil in der Türkei warten. Dann ist es zu spät. Wenn sich keiner kümmert, geht mein Bruder in der Türkei verloren.

Das kostet sicher Kraft.

Ja, auf jeden Fall. Man muss da schon vorsichtig sein. Regierungskritische Türken werden in Deutschland bereits per Smartphone-App bei der türkischen Polizei angezeigt. Das ging ja schon durch die Medien in Deutschland.

Am 11. Oktober beginnt bereits der Prozess gegen Ihren Bruder vor dem Landgericht Ankara. Werden Sie dabei sein können?

Nein, das kann ich nicht. Ein weiterer Cousin von mir ist Rechtsanwalt in Istanbul. Mit ihm tausche ich mich aus. Er wird schnellstmöglich berichten. Der Anwalt meines Bruders in der Türkei steht permanent in Kontakt mit meiner Schwägerin.

Was erwarten Sie beziehungsweise was befürchten Sie?

Ich befürchte, dass mein Bruder eine mehrjährige Haftstrafe erhalten kann. Bis zu vier Jahre drohen ihm nach türkischem Recht. Ich hoffe natürlich, dass er freigesprochen wird. Und ich hoffe erst einmal, dass sie während des Prozesses fair mit ihm umgehen.

Wie lautet der genaue Vorwurf der Sicherheitsbehörden?

Es handelt sich um eine angeblich schwere Beleidigung gegen den Staatspräsidenten.

Nach deutschem Recht wäre die angebliche Beleidigung längst verjährt. Das Verhalten der türkischen Behörden wirkt nach deutschen Rechtsmaßstäben sehr überzogen. Können Sie nachvollziehen, was da gerade in der Türkei mit Ihrem Bruder passiert?

Nein, das kann ich nicht. Ich habe da kein Verständnis für. Die Vorwürfe sind völlig überzogen. Bis jetzt liegt kein Beweis vor, dass mein Bruder Erdogan überhaupt beleidigt hat. Ich hoffe immer noch, dass man ihn bald wieder nach Hause gehen lässt.

Ihr Bruder droht wegen seiner langen Abwesenheit seinen Job in Braunschweig zu verlieren. Sein Urlaub dürfte längst aufgebraucht sein. Geht es auch um seine wirtschaftliche Existenz?

Ja, sein Urlaub ist komplett aufgebraucht. Er hat kein Einkommen mehr. Sein Arbeitgeber hat ihn erst mal auf unbestimmte Zeit freigestellt. Wir müssen jetzt den 11. Oktober abwarten. Dann können wir auch seinem Arbeitgeber mehr mitteilen. Es geht mittlerweile auch um seine wirtschaftliche Existenz. Wir haben Angst, dass er seinen Job verlieren könnte.

Sie haben türkische Wurzeln. Was ist die Türkei unter Erdogan für ein Staat geworden?

Ich kenne immer noch viele Menschen in der Türkei. Die politischen Zustände dort beunruhigen mich. Das Land ist komplett gespalten. Mit der türkischen Politik kann ich mich überhaupt nicht identifizieren. Es gibt Erdogan-Anhänger und Erdogan-Gegner. Das gilt übrigens auch für die in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln.

Das ist traurig. Die Lage ist für Andersdenkende in der Türkei sehr schwer geworden. Sie müssen sehr vorsichtig sein. In der Anfangszeit, in der Erdogan mit seiner AKP regiert hat, sah es sehr vielversprechend aus. Es ging wirtschaftlich bergauf, es wurden Straßen gebaut, Schulen saniert. Mittlerweile können viele Türken ihre Meinung aber nicht mehr frei äußern.

Werden Sie Ihre alte Heimat wieder besuchen können oder besuchen wollen?

Momentan sehe ich da keine Chance. Da die türkischen Sicherheitsbehörden das Handy meines Bruders beschlagnahmt haben und es ausgewertet haben, haben sie natürlich auch die Namen sämtlicher Familienmitglieder.

Wollen Sie denn wieder in die Türkei?

Ich bin nach Deutschland gekommen, als ich elf Jahre alt war. Ich vermisse die Türkei sehr, war schon seit mehreren Jahren nicht mehr da. Ich würde gerne wieder die Plätze und Orte sehen, an denen ich aufgewachsen bin. Das lässt die Lage gerade nicht zu. Das ist für mich jetzt ganz gefährlich. Ich habe in Deutschland gelernt, dass ich meine Meinung sagen kann. Das habe ich auch in den sozialen Medien so gemacht. Am Beispiel meines Bruders sieht man, wie gefährlich es ist – selbst wenn man gar nichts verbrochen hat.