Goslar. 265 Neonazis ziehen durch Goslar. 3000 Bürger sind unbeeindruckt, protestieren. Bei Ilsenburg gibt es einen Anschlag auf Bahngleise. Eine Reportage.

Warum dürfen solche Leute auf die Straße? Die Öffentlichkeit diskutiert über die AfD und deren Ausfälle, aber hier haben wir Leute, die man Neonazis nennt und die dagegen auch keinerlei Einspruch erheben. Das Bild mit einem T-Shirt „Aryan Brotherhood“ sagt alles…

Dies fragt ein Leser, der sich „Klugscheißer“ nennt, auf unseren
Internet-Seiten.

Die Antwort recherchierte
Andre Dolle

Im Georgenberg reiht sich ein Einfamilienhaus an das nächste. Die Vorgärten sind gepflegt, die Hecken gestutzt. Am Samstagnachmittag ziehen 265 Neonazis durch den Stadtteil, der nördlich der Altstadt Goslars liegt. In Fünferreihen marschieren die Rechtsextremisten durch den Georgenberg, drei in der Mitte, die beiden äußeren halten jeweils Fahnen.

Ein Anwohner steht mit seiner Frau auf den Treppenstufen, schaut sich die vielen Glatzen an, die an seinem Haus vorbeiziehen. Sie kommen aus ganz Deutschland. „Angst habe ich vor denen nicht“, sagt der Anwohner, der seinen Namen aber lieber nicht nennen möchte. „Viele von denen können doch gar nicht lesen und schreiben.“ Die Neonazis brüllen „frei – sozial – und national“. Daraufhin ruft einer von ihnen: „Wir marschieren für nationalen Widerstand.“ Der Rest wiederholt dies.

Die Rechtsextremen hatten monatelang für die Teilnahme an der Veranstaltung geworben, mit der sie gegen die aus ihrer Sicht existierende „Überfremdung“ Deutschlands protestieren wollten. Die Stadt hatte keine rechtliche Möglichkeit gesehen, den Aufmarsch zu verbieten. Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk geriet deshalb in die Kritik. Besonders die Gewerkschaften sahen dies kritisch – ebenso unser Leser. Junk sagte unserer Zeitung im Vorfeld der Demo zwar, dass es sehr bedauerlich sei, dass die Neonazis in Goslar seien. „Ich habe es als Verwaltungschef aber nicht zu bewerten, ob jemand gegen Atomkraft oder Flüchtlinge demonstrieren will.“ Die einzige Frage sei: „Dürfen die das?“ Da gelte das Demonstrationsrecht. Junk wies darauf hin, dass die Gegendemonstranten durch die Altstadt ziehen dürften – und nicht die Neonazis. Wie unsere Zeitung erfuhr, hätten die Rechtsextremen sich liebend gern vor der Kaiserpfalz versammelt.

Neonazi-Demo in Goslar

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Dass es sich am Samstag um stramme Nazis handelt, liegt auf der Hand. Sie reden von der „Reichsbauernstadt“. So lautete der nationalsozialistische Titel für Goslar in den Jahren 1936 bis 1945. Der bekannte Neonazi Dieter Riefling aus Hildesheim ist unter ihnen. Er hat ein Redeverbot. Dafür spricht der Neonazi Sascha Krolzig. Er gilt als Speerspitze der extrem rechten Kameradschaftsszene in NRW, ist Chef der Partei „Die Rechte“. Er liefert bei der Kundgebung am Bahnhof, kurz vor dem Marsch durch den Georgenberg, ein paar Zitate, die hart am Rande des Legalen sind. Krolzig sagt: „Wir Nationalisten sind das Bollwerk gegen die Zerstörung des Landes. Wir atmen den deutschen Geist.“ Und: „Wir haben die besten Vorbilder, die ritterlich für Deutschland gekämpft haben.“ Er meint die Nazis, die sich – im Gegensatz zu heute – gegen eine Überfremdung Deutschlands gestemmt hätten.

Carsten Dicty meldete die Kundgebung und den Aufmarsch an. Er war Teil des „Kollektiv Nordharz“. Dicty spricht mit Blick auf die Flüchtlinge von einer „Gesinnungsjustiz“ in Deutschland, warnt vor einer Überfremdung. Die Liste der Redner und ihrer Beiträge ließe sich fortsetzen. Das soll aber reichen.

Während des Marsches durch den Georgenberg sichern mehrere Hundert Polizisten den Zug. Die Polizisten laufen mit Helmen vor dem Bauch und Schlagstöcken nebenher – links und rechts von den Neonazis. Mehr als 2000 Polizisten aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Schleswig-Holstein sind am Samstag im Einsatz. Ein Hubschrauber kreist über dem Bahnhof, berittene Polizisten sorgen für Eindruck.

3000 Demonstranten lassen sich von den Nazis nicht einschüchtern. Im Gegenteil. Sie stellen einen bunten „Marsch für Demokratie“ auf die Beine. Die Bürger ziehen durch die Altstadt. Trommler sind dabei, viele führen Trillerpfeifen mit sich, sind verkleidet. Die Stimmung ist fast schon heiter. Der Zug durch die Altstadt erinnert eher an Straßenkarneval. Parteien, Gewerkschaften und Kirchen haben sich zusammengeschlossen. Mitglieder der Spaßpartei „Die Partei“ tragen in Anlehnung an die Neonazis ein Transparent mit der Aufschrift „Der rationale Widerstand“.

Gegendemonstration in Goslar

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    Prominente haben sich unter die Demonstranten gemischt, unter ihnen die Ex-Bundestagsabgeordnete Viola von Cramon-Taubadel (Grüne) und der frühere Bundesaußenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er sagt: „Ich bin Bürger dieser Stadt – na klar bin ich heute dabei. Wir wollen uns Goslar von den Nazis nicht nehmen lassen.“

    Bei der Kundgebung zwischen Bahnhof und Hotel Achtermann redet Goslars OB Junk am Mittag. „Ich bin stolz auf diese Stadt“, sagt er zu den etwa 3000 Gegendemonstranten. Diese jubeln. „Es tut gut, zu sehen, wie viele wir sind. Das hier ist ein Teil der Mehrheit in Deutschland. Nicht die AfD – und schon gar nicht die Neonazis.“

    Der niedersächsische Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Dietmar Schilff, steht unter den Demonstranten. Auch er ist zufrieden mit dem Ablauf: „Es ist ein friedlicher und bunter Protest.“

    Die Demo sei weitgehend störungsfrei verlaufen, sagt ein Polizeisprecher im Anschluss. Nur in einem Fall hätten Beamte „körperlichen Zwang“ anwenden müssen, als Demonstranten eine Polizeisperre durchbrechen wollten. Zwei Personen seien vorübergehend in Gewahrsam genommen worden. Bei Langelsheim hätten Beamte die Busse auswärtiger Demonstranten kontrolliert, dort habe es aber keine Probleme gegeben. Einer der Neonazis zeigt den Hitlergruß. Er wird kurzzeitig in ein Polizeizelt abgeführt. Das war es auch schon.

    Wobei? Bereits am Vormittag verüben Unbekannte auf die Bahnstrecke Goslar-Halberstadt bei Ilsenburg einen Anschlag. Sie kippen Flüssigbeton in die Gleise, setzen Kabelschächte in Brand und legen brennende Reifen ins Gleis. Das teilt eine Sprecherin der Bundespolizei in Magdeburg am Telefon auf Anfrage am frühen Nachmittag mit. Die Strecke wird stundenlang gesperrt. Im einem der Züge sitzen auch etwa 100 Neonazis aus Ostdeutschland. Ob der Anschlag im Zusammenhang mit den Protesten gegen Rechts steht, ist noch unklar. Die Bundespolizei ermittelt. Der Zusammenhang liegt aber nahe.

    Mit zweistündiger Verspätung treffen die Neonazis per Schienen-Ersatzverkehr am Bahnhof in Goslar ein. Die Neonazis umarmen sich zur Begrüßung. Man kennt sich.

    Beim Aufmarsch haben sich zwei Bürger im Georgenberg Camping-Stühle vor ihr Haus gestellt. Sie schauen sich den Aufmarsch an. Hier und da schieben Anwohner kurz die Gardine zur Seite, gucken aus dem Fenster. Ein Bürger steht mit verschränkten Armen vor seinem Haus, schüttelt mit dem Kopf, als die Neonazis vorbeiziehen. „Das müssen wir aushalten“, sagt er.

    Immer wieder wollen Neonazis in die Vorgärten pinkeln, einige haben zu viel Alkohol getrunken. Polizisten zerren sie zurück auf die Straße. Zwei Neonazis machen sich über Gabriel lustig. „Wie kann so einer Ehrenbürger werden?“ Gabriel hatte vor einiger Zeit einer Gruppe von Rechten in Salzgitter den Mittelfinger gezeigt.

    Auf dem höchsten Punkt des Georgenbergs, nahe einer drei Meter hohen Bismarck-Statue, halten die Neonazis eine kurze zweite Kundgebung ab. Einer der Veranstalter gibt ein „Traditionsbanner“ an einen Neonazi aus Chemnitz ab. Dort wird 2019 der nächste „Tag der deutschen Zukunft“ stattfinden. Um 16 Uhr ist es vorbei. Die Neonazis sitzen bereits in den Zügen Richtung Heimat oder warten auf ihre Verbindung. Die Polizei gibt die Abfahrten per Lautsprecher durch. Die meisten Beamten steigen bereits in ihre Bullis. Vor dem Hotel Achtermann wird die Bühne abgebaut. Zwei Touristen aus Stuttgart stehen mit ihren Fahrrädern vor dem Hotel, sehen die noch verbliebenen Polizisten und die Aufräumarbeiten. Sie sind am Morgen mit dem Rad in Wernigerode gestartet. Die Frau fragt: „Was war denn hier los?“ Der Spuk ist vorbei.