Braunschweig. Er beschreibt präzise das Elend der SPD. Im neuen Buch wie beim Gespräch in Braunschweig bleiben seine Folgerungen aber vage.

Ein Leser fragt während der Veranstaltung im BZV Medienhaus:

Ist die SPD reformierbar oder mittlerweile eine reine Kaderpartei?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Gute Ratschläge eines Ex-Kanzlerkandidaten. Darauf haben sie in der SPD – ausgerechnet zum Start der Groko – sicher nicht gewartet. Dann heißt das neue Buch von Peer Steinbrück auch noch „Das Elend der Sozialdemokratie – Anmerkungen eines Genossen“. Eine Provokation. So ist es auch gemeint.

Natürlich sind das Buch und auch der Dienstagabend im BZV Medienhaus interessant. Peer Steinbrück hat so viel erlebt: als Ministerpräsident in NRW und als Bundesfinanzminister. Als Kanzler- kandidat der SPD wurde er erst in den Himmel gehoben. Dann kam der Absturz. Er weiß genau, wie es Martin Schulz ergangen sein muss – inklusive der Streitereien mit Sigmar Gabriel. Den nennt Steinbrück an diesem Abend nur „den großen Dynamiker“. Und doch ist Steinbrück ein problematischer Ratgeber. Viele Genossen mögen ihn so sehr wie zwei Wochen Regenwetter.

Gerade weil er so polarisiert, kommen vermutlich die 300 Besucher ins BZV Medienhaus. Eingeladen hatte die Buchhandlung Graff. Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, moderierte.

Den Einwurf unseres Lesers weist Steinbrück zurück. „Die SPD hat sich in ihrer langen Geschichte immer wieder gehäutet.“ Der Problemdruck sei zu groß, die Partei werde sich reformieren.

Dieser Glaube an die Reformierbarkeit der SPD hindert Steinbrück nicht daran, sich die Partei ordentlich zur Brust zu nehmen. Er erinnert an die Bundestagswahlen 2009 und 2013 und zieht Parallelen zur Wahl im vergangenen Jahr. Eine wirkliche Ursachenanalyse habe nicht stattgefunden. Das holt Steinbrück nach. Er erinnert an den misslungenen Wahlkampf 2013, an seinen Wahlkampf. „Ich habe schon meine Fehler gemacht“, sagt er – erinnert sei an dieser Stelle an Unbedachtheiten wie den Stinkefinger oder zu hohe Vortragshonorare. Wie 2017 bei Schulz sei auch dieser Wahlkampf aber nicht auf den Kandidaten zugeschnitten gewesen. Seine Kandidatur sei eine „Sturzgeburt“ gewesen, sagt Steinbrück. Er selbst hätte eine Agentur für den Wahlkampf aussuchen müssen. Er hätte ein Team um sich scharen müssen. Die nötige „Beinfreiheit“ habe man ihm aber auch thematisch nicht zustehen wollen. Wie bei Schulz vier Jahre später.

Die SPD habe seit Gerhard Schröders Wahlsieg 1998 zehn Millionen Wähler verloren – „in sämtlichen Regionen, Altersgruppen und Milieus“. Steinbrück habe sich einen Generationswechsel gewünscht. Er hätte sich auch gewünscht, dass Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil eine stärkere Rolle in der Partei spiele. Stattdessen: „Flügelproporz, Geschlechterproporz und Länderproporz. Was soll das?“ Bei den Genossen gelte die Devise „Stallgeruch statt frischer Wind“. Während des Schulz-Hypes traten mehr als 20 000 neue Mitglieder in die Partei ein – zwei Drittel von ihnen sind 35 Jahre alt und jünger. Die müsse man halten und begeistern. Am besten in einer Bewegung wie Emmanuel Macrons En Marche – nur innerparteilich.

Ansonsten müsse sich die SPD aus der Kommunalpolitik heraus erneuern. Landauf, landab gebe es immer noch viele SPD-Bürgermeister und Landräte. „Die machen gute Politik und können mit Geld umgehen.“

Nicht nur personell, auch inhaltlich macht Steinbrück der SPD schwere Vorwürfe: „Die Partei hat ein falsches Bild von den Bürgern.“ Der Begriff Gerechtigkeit sei zu abstrakt. „Das hat die Leute im Wahlkampf nicht vom Hocker gerissen, weil jeder etwas anderes darunter versteht.“ So sei auch die „Ehe für alle“ kein Mehrheitsthema gewesen. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Ehe für alle ist richtig. Die SPD hat das aber zu lange wie eine Monstranz vor sich hergetragen und Themen wie die Dieselkrise oder die Wohnungsnot vernachlässigt.“

Es sei auch ein Fehler gewesen, dass die SPD aus Rücksicht vor ihrem linken Flügel die Flüchtlingsdebatte nur am Rande aufgenommen habe. „Die SPD laviert“, sagt er. Mit Blick auf die AfD behauptet Steinbrück: „Wir dürfen das Thema nicht den dumpfbackigen Rechten überlassen.“ Die SPD banalisiere handfeste Probleme an Schulen, in ganzen Stadtvierteln und blende die Clankriminalität aus. Er sei aber kein Law-and-Order-Politiker. Denn: „Gebe ich der Mehrheit Sicherheit, ist das der beste Minderheitenschutz.“

Auch an der Agenda 2010 arbeitet sich Steinbrück ab. Oder vielmehr an ihren Kritikern. „Das war unsere Reform“, sagt er. „Sie hat Deutschland modernisiert.“ Angela Merkel habe die Ernte eingefahren. „Wir müssen uns für die Agenda 2010 nicht entschuldigen“, so Steinbrück. Die SPD aber haderte erst in den vergangenen Wochen wieder mit Hartz IV, einige forderten stattdessen ein Grundeinkommen. Dazu Steinbrück: „Die SPD muss sich langsam zu Ende therapiert haben – oder auf der Couch bleiben.“

Steinbrück ist sich sicher, dass die SPD gebraucht wird. Er benennt Zukunftsthemen. Dazu zählen seiner Meinung nach die Zähmung des digitalen Kapitalismus à la Facebook und Google. Steinbrück sieht auch den Kampf gegen die wachsende Vermögensungleichheit als drängendes Problem. Und er wünscht sich Mut zu einer neuen Debatte über Identitätspolitik. Bei all diesen Themen aber greifen Steinbrücks Ausführungen zu kurz. Schade.