Dhaka. Beim Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch, die für den Discounter KiK produzierte, starben vor fünf Jahren 1135 Menschen.

Unsere Leserin Heike Heinemann fragt auf unseren Facebookseiten:

Hat sich seit dem Unglück in der Textilfabrik in Dhaka denn was geändert?

Die Antwort recherchierte Sören Kittel

Sojol und Jamal waren beste Freunde bis zum Tag des Unglücks. Sie haben einander „Lau“ genannt, Sojol muss lachen, wenn er daran denkt. Lau ist Bengalisch und bedeutet „Kürbis“. Das ist ein seltsamer Spitzname, aber sie waren beide erst 20 Jahre alt. Sojol erzählt wie sie einander kennen lernten, im fünften Stock der Textilfabrik Rana Plaza, wo beide für den deutschen Discounter KiK arbeiteten, sechs Tage pro Woche, zehn Stunden am Tag, für 60 Euro Lohn im Monat. Sie haben zusammengewohnt, jeden Abend gemeinsam gegessen – und am 23. April 2013 stritten sie sich. „Ich wollte nicht mehr in das Rana Plaza gehen“, sagt Sojol. Er hatte Risse in den Wänden gesehen. „Aber Jamal wollte seinen Job nicht verlieren.“ Sojol gab nach. Es war der Fehler seines Lebens.

Am 24. April 2013 waren 3500 Fabrikarbeiter in dem Gebäude, auch Jamal und Sojol. Es gab einen Stromausfall, die Generatoren wurden angeworfen – und wegen deren Vibration kam es zum endgültigen Kollaps des Gebäudes. Gegen 9 Uhr morgens stürzte das achtgeschossige Gebäude in sich zusammen und sorgte für eine der schlimmsten Katastrophen, die die Menschen von Bangladesch bis dahin erlebt hatten. 1135 Menschen starben in den Trümmern, weitere rund 2500 Menschen wurden verletzt. Der letzte Überlebende wurde 16 Tage nach dem Unglück geborgen.

Dass Sojol Mitra überlebte, kann er sich auch fünf Jahre später kaum erklären. „Ich bin im Treppenhaus gestürzt und die Menschen liefen über mich“, sagt er. „Ich weiß noch, wie ich dachte, jetzt sterbe ich.“ Er wachte im Krankenhaus auf, jemand hatte ihn aus den Trümmern gezogen. Sein rechtes Bein war in einer Schlinge und er spürte seinen Körper nicht. Seine Eltern kamen aus dem Dorf im Norden in die Hauptstadt gefahren, Sojol fragte nach Jamal. Sein Körper wurde nie gefunden.

Der Unfall von Rana Plaza stellte eine Zäsur für den wichtigsten Industriezweig Bangladeschs dar. Über vier Millionen Menschen arbeiten in der Textilindustrie und sorgen für rund 80 Prozent der Exporteinnahmen des Landes. Globale Firmen weltweit ließen in Dhaka produzieren – H&M, Zara, Tchibo –, doch um die Sicherheit der Arbeiter kümmerte sich jahrelang niemand. Nur das Unternehmen Tchibo hatte gerade im Jahr vor dem Unglück ein Abkommen in die Wege geleitet, um Unfälle wie diese zu verhindern.

Im April 2013 ging alles ganz schnell: „Accord“ wurde gegründet, eine Stiftung, die sich um die Standards der Fabriken kümmern sollte. Rob Wayss ist seit fünf Jahren Chef dieser Organisation, der 200 Firmen aus 19 Ländern beigetreten sind, darunter Benetton, KiK, Adidas und H&M. Mit seinen 250 Mitarbeitern hat er in den vergangenen fünf Jahren 1800 Gebäude untersucht. „Der Zustand der Fabriken war katastrophal“, sagt er. „Es gab kein einziges Gebäude, in dem wir nicht Defizite in allen drei Bereichen hatten: Statik, Elektrizität und Brandschutz.“ Er habe 150 Firmen sofort schließen lassen und ließ andere zeitweise evakuieren.

Sohel Rana war der Inhaber des Rana Plaza. Erst vor wenigen Monaten wurde er wegen Umgehung der Baurichtlinien zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Aber es sind noch mehrere Verfahren gegen ihn anhängig, unter anderem wegen Mordes. Dafür kann in Bangladesch auch die Todesstrafe verhängt werden.

Sojol Mitra sagt, dass er kein Mitleid mit Sohel Rana habe. „Von mir aus soll er gehängt werden.“ Er sagt, dass er seit jenem Tag nicht mehr weiß, was es bedeutet, Spaß zu haben. „Meine Freunde sagen das auch: Du bist immer so ernst.“ Er hat Albträume, bekommt am Tag Panikattacken. „Ich schwitze plötzlich und muss raus in die Natur.“ Er wohnt jetzt wieder in seinem Dorf im Norden von Bangladesch, arbeitet in einer Hühnerfarm. Eine Textilfabrik will er nie wieder betreten.

Abul Hossain ist Textilfabrikant aus Dhaka, er beschäftigt rund 150 Arbeiter in einer kleinen Fabrik. Er empfindet die Sicherheitsvorkehrungen als Bedrohung seines Geschäftsmodells. „Das Problem sind doch nicht nur unsere Fabriken“, sagt er, „sondern, dass wir immer billiger produzieren müssen.“ Bis 2013 hätten die Einkäufer nie nach Brandschutz gefragt, sondern nur nach dem Preis. Wenn der zu hoch war, seien sie in ein anderes Land gegangen. „Unsere Konkurrenz sitzt in Vietnam, Myanmar und Kambodscha“, sagt er, „wo solche Standards nicht gelten.“

Angefangen hat er in den 1980er Jahren mit seiner Fabrik, konnte zeitweise bis zu 300 Menschen einstellen. Bangladesch war schon damals sehr arm, die Menschen litten Hunger, es war leicht, Arbeiter zu finden. Bis 2013 lag der Mindestlohn bei 61 Euro im Monat. Heute beträgt er fast 100 Euro. Darunter wolle keiner mehr arbeiten, sagt Hossain. Das schlägt sich auf den Preis nieder. Bis 2013 kostete eine Jeans in der Produktion rund neun Euro, heute sind es bis zu zwölf. Das Label „Made in Bangladesh“ hat sich von den Problemen zumindest zum Teil erholt, globale Unternehmen lassen wieder im Land produzieren. Starben bis 2013 im Durchschnitt rund 200 Menschen pro Jahr in den Fabriken, sind es jetzt nur fünf. Für Accord ist das ein Erfolg, ihr Mandat, das nur für fünf Jahre galt, wurde um weitere drei Jahre verlängert. „Bangladesch“, sagt Rob Wayss, „ist wahrscheinlich eines der sichersten Länder für Textilproduktion.“ Aber Fabrikant Abul Hossain weiß nicht, wie lange er noch seine Fabrik offen halten kann.

Sojol Mitra war vor kurzem noch einmal am Rana Plaza. Das Gebäude ist noch immer eine Ruine. Die Aufräumarbeiten wurden unterbrochen, ein Denkmal gibt es nicht. Sojol glaubte damals ein Stück Knochen zwischen den Steinen zu sehen. Jamals Leiche wurde nie gefunden. Kürzlich wählte er noch einmal die Mobilnummer seines Freundes. „Kein Anschluss“, hieß es.