Goslar. Sigmar Gabriel spricht im Interview über sein Familienleben, die SPD und sein neues Amt.

Für Sigmar Gabriel ist der Verlust des Parteivorsitzes, den er für eine glaubwürdige und kraftvolle Kanzlerkandidatur an seinen Freund Martin Schulz übergibt, schmerzhaft. Es sei das stolzeste Amt gewesen, das er in seiner politischen Laufbahn innehatte, sagt er der Goslarschen Zeitung. Über den Abschied von der Macht, über seine Familie und Freunde gibt Gabriel im Interview eine sehr persönliche Einsicht in sein Fühlen und Denken am Tag nach der Entscheidung. Die Fragen stellten Andreas Rietschel und Heinz-Georg Breuer.

Herr Gabriel, arbeitsreiche Jahre der Koalition liegen hinter Ihnen, eine aus unserer Beobachtung harte Zeit für den SPD-Vorsitzenden , Wirtschaftsminister, Vize-Kanzler und bekennenden Familienvater mit unendlichen Kilometern auf der Autobahn. Das Pendeln zwischen Berlin und Goslar zeigt zweierlei: Ihre Verbundenheit zu Goslar und den Willen, ein Familienleben zu führen. Ihr drittes Kind wird bald geboren. Ihr politisches Engagement ist ein enormer Zeitfresser, nur noch steigerbar durch die mögliche Kanzlerschaft. Sind das einige der Gründe, warum Sie sich entschieden haben, nicht zu kandidieren?

Es stimmt, dass die meist 14 oder 16-stündigen Arbeitstage und die Notwendigkeit, auch am Wochenende viele Termine als SPD-Parteivorsitzender wahrzunehmen das Familienleben oft belastet haben. Und man muss schon sehr treue Freunde haben, die an ihrer Freundschaft festhalten, obwohl wir uns sehr selten sehen.

Gott sei Dank habe ich das Glück, solche Freunde in meinem Leben gefunden zu haben. Aber trotzdem sind das nicht die ausschlaggebenden Gründe für meine Entscheidung gewesen. Das hätte meine Frau mir auch nicht abgenommen. Die hat nur lakonisch gesagt: „Du arbeitest auch viel, wenn Du morgen einen normalen Job annehmen würdest. Das ist bei dir ein Gendefekt.“

Was sind die Gründe?

Martin Schulz hat einfach die besseren Chancen für ein gutes Wahlergebnis für die SPD. Viele Menschen überlegen, ob sie beim nächsten Mal nicht wieder die SPD wählen. Aus intensiver Forschung wissen wir, dass fast alle das aber mit dem Wunsch verbinden, nicht die Große Koalition unter Angela Merkel fortzusetzen.

Ich stehe aber für diese Große Koalition und ich finde im Übrigen auch, dass wir eine gute Arbeit gemacht haben. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 26 Jahren nicht mehr. Wir haben so viele Beschäftigte in Deutschland, wie noch nie zuvor. Die Zahl der guten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze nimmt zu, die Zahl der schlecht bezahlten ab. Und endlich steigen auch Löhne und Renten wieder. Ich könnte die Liste weiter fortsetzen.

Vom Wohnungsbau bis zum Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen. Und nicht zuletzt: In einer wirklich immer instabileren Welt ist Deutschland ein Hort der Stabilität. Wir haben unser Land ziemlich gut durch die Krise gesteuert. Trotzdem sind große Koalitionen auf Dauer ein Problem. Sie führen fast automatisch dazu, dass die politischen Ränder stärker werden. Deshalb wünschen sich viele Menschen wieder klare Alternativen. Martin Schulz gilt als Chance für einen neuen Aufbruch.

Ich bin sehr verbunden auch mit den vielen Konflikten, die nun mal ein Regierungsgeschäft mit sich bringt. Man reibt sich auch innerparteilich ein bisschen wund. Deshalb war jetzt ein Wechsel richtig. Natürlich hat jeder Politiker auch eigene Leidenschaft und Ambition. Das ist bei mir nicht anders. Aber der Vorsitzende der SPD hat nicht zuerst an sich, sondern an das Wohl seiner Partei zu denken. Mein Vorbild dafür war immer Hans-Jochen Vogel. Ich hoffe, dass ich diesem Vorbild gerecht geworden bin.

Sie sind ein Familienmensch, der sich in der Abwägung – hier ein spannendes Leben in der Politik mit machtvollen Möglichkeiten – dort die Familie, mit Ihrer Frau, mit Tochter Marie und dem angekündigten Nachwuchs – für den Ehemann und Vater entschieden hat. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?

Das ist ehrlich gesagt ein schwieriges Thema. Denn es ist nicht schön, wenn die Tochter das erste Wort, den ersten Schritt oder die erste Schwimmstunde immer ohne Sie macht. Wenn man als Vater das oft genug nur erzählt bekommt und nicht erlebt. Ich hatte als Kind keine richtige Familie und ein richtiges Zuhause habe ich erst ab meinem 10. Lebensjahr bei meiner Mutter gefunden. Schon deshalb möchte ich meinen Töchtern ein guter Vater sein.

Nun bedeutet der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur auch das Ende des Parteivorsitzenden Gabriel. Sie hängen aber sehr am Parteivorsitz. Schmerzt dieser Rücktritt?

Ja. Eindeutig. Das ist mir am schwersten gefallen. Denn Vorsitzender der Partei von August Bebel, Friedrich Ebert, Otto Wels, Kurt Schumachers und Willy Brandts sein zu dürfen, war für mich eine große Ehre. Es war das stolzeste Amt, das ich in meinem Leben bekleiden durfte. Wichtiger als es etwa das Kanzleramt gewesen wäre. Das versteht man als Außenstehender vielleicht nicht. Aber die SPD war immer die gute Seite der deutschen Geschichte. Sie ist die demokratische Konstante Deutschlands. Ihre Mitglieder sind für unsere Ziele ins Gefängnis und in die Konzentrationslager gekommen. Fast nichts an Demokratie, Freiheit und sozialer Sicherheit wäre ohne die SPD in Deutschland in Gang gekommen. Auch die SPD hat in ihrer Geschichte Fehler gemacht. Aber wir tragen seit mehr als 125 Jahren den gleichen Namen, weil unsere Fehler nie so groß waren, dass wir uns deshalb so sehr hätten schämen müssen, dass wir den Namen geändert hätten. Das geht allen anderen Parteien anders, die älter als ein paar Jahrzehnte sind. Deshalb war der Abschied aus dem Amt als SPD-Vorsitzender für mich schwer. Aber er war nötig. Sonst hätte die Kandidatur von Martin Schulz keine Glaubwürdigkeit bekommen.

Der Parteitag 2009 in Dresden mit Ihrer Wahl zum Vorsitzenden wirkte wie ein innerparteilicher Aufbruch, den man selten erlebt. Warum hat er nicht getragen?

Er hat sogar sehr getragen. Wir regieren heute wieder in fast allen Länder oder führen die Landesregierungen sogar an. Wir haben wieder ein exzellentes Verhältnis zu den deutschen Gewerkschaften.

Wir haben zwei Bundespräsidenten durchgesetzt – jetzt Frank-Walter Steinmeier und zuvor Joachim Gauck. Was wir noch nicht geschafft haben, ist im Bund wieder stärker zu werden. Das liegt übrigens vor allem an unserer großen Schwäche im Süden und Osten der Bundesrepublik. Dort wohnt aber ein Drittel der Bevölkerung.

Welche Aufgaben kommen künftig auf Sie zu, haben Sie bereits einen Plan?

Ich freue mich sehr auf das Amt des Bundesaußenministers. Denn die Welt ist gerade überall im Umbruch. Wir sind Zeitzeugen einer Neuvermessung der Welt. Dabei die Interessen meines Landes, zu vertreten, ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch eine große Ehre. Wenn Sie meiner Mutter mal erzählt hätten, dass Ihr Sohn mal Bundesaußenminister wird, sie hätte es nicht geglaubt und Sie vermutlich ausgelacht. Das macht mich auch ein wenig stolz.