Braunschweig. Als das Privatfernsehen vor 30 Jahren startete, befürchteten viele das Ende des Abendlandes. Es bedeutete tatsächlich eine Zeitenwende.

Unser Leser Horst Gerike aus Hannover sagt:

Die Zulassung des Privatfernsehens ist eine längst überfällige Entscheidung gewesen. Die guten Einschaltquoten beweisen es und widerlegen die damaligen Bedenkenträger.

Unser Leser Rüdiger Reupke aus Isenbüttel sagt:

Privatfernsehen ist für mich mit Blick auf das geistige Niveau des Was und Wie seines Angebotes zu weiten Teilen eine mediale Schande.

Zum Thema recherchierte Andre Dolle

Als am 1. und 2. Januar 1984 die ersten privaten Fernsehsender in Deutschland ihren Betrieb aufnahmen, war deren Bedeutung noch nicht abzusehen. Jedoch war der Start von Sat 1 und einen Tag später RTLplus einschneidend – für den Medienmarkt sowieso, aber auch für die Gesellschaft.

Dabei waren die Anfänge alles andere als glamourös, wie der Medienwissenschaftler Rolf Nohr von der Hochschule für Bildende Künste aus Braunschweig weiß. „In Wellblechhütten auf einem Sturzacker produzierten die Privaten zuerst. Es war noch nicht abzusehen, wie sich die beiden Sender entwickeln würden. Das war ein Experimentierfeld mit sehr bescheidenen Ressourcen“, sagt der Professor. Gerade einmal 200 000 Bundesbürger konnten die beiden neuen Fernsehsender anfänglich empfangen.

Der Weg war erst nach dem Regierungswechsel 1982 frei

Eine Erfolgsgeschichte begann. Aus diesen bescheidenen Privat-TV-Anfängen ist ein riesiger Markt geworden. Werbefinanziertes Fernsehen ist jedoch erst nach harten politischen Widerständen möglich geworden. Die SPD etwa, die Kirchen oder auch Gewerkschaften befürchteten negative Auswirkungen für Kinder und Familien. Erst nach dem Regierungswechsel von 1982, als die FDP den Koalitionswechsel von der SPD zur CDU/CSU vollzogen hatte, war die Bahn frei für das Privatfernsehen in Deutschland.

Für Medienwissenschaftler Nohr ist die Einstellung von Teilen der deutschen Politik und Kirche nicht mehr nachvollziehbar. „Konservative aus CDU und CSU sind eben marktkonformer, wirtschaftsnaher.“

Markus Schultze aus Wolfenbüttel war von 2000 bis Ende 2005 Moderator bei MTV. Er verdankt dem privaten Musiksender sehr viel, wie er sagt. Er habe unter anderem die Pop-Titanen U 2 in Dublin interviewt, die Castingband No Angels in einem Pool auf Ibiza. „MTV war im Gegensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen jugendlich, frisch – einfach cool“, sagt Schultze. Dennoch sieht er das Privatfernsehen auch kritisch. „Es ist Fluch und Segen zugleich. Es ist nicht alles Schwarz-Weiß. Auch beim Privatfernsehen gibt es Schattierungen.“

Mit den durch das Privatfernsehen aufkommenden Castingshows etwa habe er als Musiker, der viel Zeit in Proberäumen verbracht hat, zu Beginn gar nichts anfangen können. „Heute denke ich: ,Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden‘“. Schultze schreibt dem Privatfernsehen eine immense Bedeutung zu. „Es hat Türen geöffnet, das gesellschaftliche Spektrum erweitert, Tabus wurden gebrochen. Das Privatfernsehen hat seine Berechtigung, es hat sich einen Markt geschaffen.“

Mit ihrer Sexberatung sorgte Erika Berger für Diskussionen

Nach Sat 1 und RTL folgten Sender wie Musikbox (ab 1989 Tele 5), die europäische Ausgabe des Musikkanals MTV (1987), ProSieben (1989), der Bezahlsender Premiere (1991), der Kabelkanal (ab 1994 Kabel 1), der Nachrichtensender n-tv (1992) oder Programme wie Vox, RTL II und Viva (alle 1993), N24 (2000) und bis heute viele mehr.

Für das Privatfernsehen und seinen Ruf war lange der Wiener Helmut Thoma prägend. Von 1984 bis 1999 stand er an der RTL-Spitze. Ihm verdanken wir Sprüche wie „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“ oder „Im Seichten kann man nicht ertrinken“. Nach diesem Credo gestaltete Thoma das Programm und lag oft goldrichtig.

„Es war auch Thoma, der die Zielgruppen-Fixierung der angeblich werberelevanten 14- bis 49-Jährigen einführte. Das ist allerdings ein großer Quatsch, denn ein 14-Jähriger hat selten dieselben Interessen wie ein 49-Jähriger“, sagt Nohr.

Inhaltlich haben die Privaten laut dem Medienwissenschaftler neue Formate ausprobiert und für Aufsehen gesorgt: sei es mit Frühstücksfernsehen, Seifenopern, Reality-Shows, lockereren Nachrichtensendungen oder Castingshows.

Nohr: „Für Diskussionsstoff sorgten die Sexberatung mit Erika Berger oder die nackten Brüste bei ,Tutti Frutti‘.“ Hinzu kommen die Ekel-Spiele im Dschungelcamp, Krawall-Talkshows, Sozial-Experimente à la „Big Brother“ oder Scripted Realitys.

„Das war aber nicht alles schlecht. Einige dieser Formate wurden sogar für den Grimme-Preis nominiert oder haben ihn gewonnen“, sagt Nohr. „Das zeigt, dass das Privatfernsehen inzwischen kulturell gesetzt ist.“

Der Medienwissenschaftler bringt den Kern des Privatfernsehens auf den Punkt: „Die Ware des Privatfernsehens ist die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Diese Ware verkauft er an Werbekunden.“ Das Programm sei dabei das Mittel zum Zweck. Es herrschten eben andere Gesetzmäßigkeiten als beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. „Niemand ist gezwungen, sich all das im Privatfernsehen anzusehen“, entgegnet Nohr den Kritikern.

Viele Fernsehköpfe wären ohne die Privaten heute kaum das, was sie sind – man denke an die Aufstiege von Günther Jauch oder Stefan Raab. Das Privat-TV fungierte auch als Talentschmiede. Nohr: „Die Öffentlich-Rechtlichen sind manchmal zu starr, zu bürokratisch. Talente können sich bei den Privaten manchmal besser entwickeln, sie sind hier und da dynamischer.“

Eine Gifhornerin als Kind des Privatfernsehens

Senta-Sofia Delliponti aus Gifhorn ist ein Kind des Privatfernsehens. Bereits als 13-Jährige nahm sie 2003 an der Sat1-Castingshow „Star Search“ teil. Von Ende 2010 bis Mitte 2013 war sie Teil der RTL-Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (GZSZ). Dem Privatfernsehen habe sie viel zu verdanken, sagt sie: „Tolle Freunde, Medienpräsenz.“ Das Privatfernsehen ermöglichte der Gifhornerin den Einstieg ins Show-Geschäft, in die Schauspielerei. „Ich bin froh, dass es die Formate der Privaten gibt“, sagt Delliponti.

Aber hat sie nur gute Erfahrungen gemacht? „Der Druck ist bei den Privaten schon groß. Man muss bei GZSZ einfach funktionieren. Das sind lange Drehtage, da muss man voll bei der Sache sein.“

Delliponti hat auch die andere Seite kennengelernt. Sie hat einen Krimi für das ZDF an der Seite von Rainer Hunold gedreht. Demnächst wird der Teil der Reihe „Der Staatsanwalt“ ausgestrahlt. Außerdem ist sie ein Fan des ARD-„Tatorts“. Delliponti sagt: „Da würde ich unheimlich gerne selbst einmal mitspielen.“

Alles sei größer, gediegener bei den Öffentlich-Rechtlichen, so die Gifhornerin. „Und das Essen beim Dreh schmeckt besser“, sagt sie und lacht am Telefon. Das solle aber nicht heißen, dass die Privaten für sie keine Rolle mehr spielen, im Gegenteil. Auch dort gebe es Qualität. Man weiß ja nie.

Von heute aus gesehen kann man sagen, dass trotz all der Niederungen, die vor laufenden Geräten zu durchkämmen waren, der Untergang des Abendlandes nicht stattfand. Medienwissenschaftler Nohr sieht die Privaten nüchtern und sagt: „Wir haben uns nun einmal dafür entschieden, dass es das Privatfernsehen geben soll.“ Mit den Konsequenzen leben wir seit 30 Jahren.