Braunschweig. Michael Gabriel von der Koordinationsstelle Fan-Projekte hält eine Debatte über das „kontrollierte Abbrennen“ von Bengalos im Stadion für nötig.

In vielen Stadien spielten sich am Ende der Saison 2021/2022 wieder altbekannte Szenen ab: Gezündete Pyro-Technik wie in Wolfsburg, Platzstürme nach Aufstiegen, aufmarschierende Polizei und Security. In Braunschweig fand zudem ein Fan-Marsch statt, in dessen Folge es zu Übergriffen gegenüber Fotografen und unbeteiligten Passanten kam.

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So sehr sich Spieler und Vereine nach mehr als zwei Jahren Pandemie wieder auf volle Stadien freuten, so ungelöst bleibt offenbar ein Problem: Die praktisch unverhandelbare Liebe zu seinem Verein führt immer wieder auch zum Überschreiten von Grenzen.

Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte in Deutschland (KOS).
Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte in Deutschland (KOS). © FotO: KOS

Der diplomierte Sportwissenschaftler Michael Gabriel leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) in Deutschland. Im Interview erklärt er, wie er die Situation in den Stadien nach dem erneuten Abklingen der Corona-Lage einschätzt.

Die Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS), die Sie leiten, hat das Ohr an der Kurve. Sie sagen, die mehr als 70 Fan-Projekte deutschlandweit seien ein „Seismograf“, wenn sich Stimmungslagen verändern würden. Wie haben Sie in den letzten Wochen die Situation wahrgenommen?

Das Bild ist keinesfalls einheitlich. Es gibt Vereine, die nach der Pandemie insgesamt eine geringere Auslastung der Stadien erlebt haben. Ich denke da an Wolfsburg oder Hoffenheim, aber auch in Mainz war das so. Bei anderen Vereinen hatte man das Gefühl, es ist wie immer: Wenn man sich Bilder aus Frankfurt ansieht, die Anteilnahme der Fans bei den Auswärtsfahrten auf dem Weg zum Europa-League-Titel, kann man nicht davon sprechen, dass Corona der Faszination Fußball an irgendeiner Stelle einen Abbruch getan hat. Ganz allgemein haben wir eine große Freude bei den Fans verspürt, endlich wieder zurück zu sein. Die Gräben zwischen aktiver Fanszene, den Ultras, und denen, deren Aufgabe es ist, den Fußball als Wirtschaftszweig zu vermarkten, sind aber geblieben und nicht kleiner geworden.

Wie schätzen Sie das weiterhin hemmungslose Abbrennen von „Pyro“-Technik ein?

Es wurde sehr viel gezündelt, das ist richtig. Für uns als Beobachter wird hier ein gewisser Überschuss an Emotionen sichtbar nach zwei Jahren Einschränkungen durch die Pandemie und nach zwei Jahren ohne Stadionbesuch. Das gilt auch für den ein oder anderen Platzsturm. Und den Einsatz von Pyro kann man in diesem Kontext auch als sichtbares Signal der Fans interpretieren, „schaut her, wir sind wieder da“!

Ein Signal, das im wahrsten Sinn des Wortes brandgefährlich sein kann.

Ja, das ist so. Zu bedenken ist aber auch, dass wir uns in einer Phase der Saison befanden, in der es sportlich um viel ging. Da, wo die Emotionen hochkochen, steigt die Wahrscheinlichkeit solcher Aktionen. Für mich waren die Vorkommnisse bei der Relegation in Dresden so ein Beispiel. Klar ist, das Abbrennen von Bengalos ist immer auch als Signal an die gedacht, die das verteufeln. Es ist ein Statement der aktiven Fan-Szene: Wir sind nicht nur wieder zurück im Stadion, sondern auch: Wir machen weiter unser Ding.

Andere Besucher im Stadion empfinden das vielleicht aber als verstörend. Wie sehen Sie diese Gemengelage?

Sie sprechen da einen wichtigen Punkt, nämlich das Binnenverhältnis zwischen den Stadionbesuchern, an. Mein Eindruck ist, dass an den allermeisten Standorten die Rückkehr der Ultras von den anderen Fans, die beispielsweise in Fan-Clubs organisiert sind, begrüßt wurde. Die haben alle gemerkt: Es fehlt etwas. Gleichzeitig dürfen Platzstürme keine Normalität werden. Das ist eine Situation, die Gefahren für Leib und Leben birgt, wie es zum Beispiel nach dem Aufstieg auf Schalke der Fall war.

War es ein Trugschluss zu glauben, die Pandemie macht alle Beteiligten demütiger? Deutschland stellt da keine Ausnahme dar. Als zuletzt in Frankreich der Rekordmeister St. Etienne abgestiegen ist, haben Fans Bengalos als Wurfgeschosse gegen die eigenen Spieler eingesetzt...

Richtig. Auch in anderen Ländern gibt es diese Konfliktlinien. Und da Sie Frankreich erwähnen: Hier ist die Spaltung der Gesellschaft noch größer, die soziale Schere geht noch weiter auseinander und das hat Auswirkungen auf das Verhalten im Stadion. Der große Unterschied zu Deutschland ist, dass Fans hierzulande viel stärker eingebunden werden. Hier gibt es das Netz der 71 Fan-Projekte, die den pädagogischen Auftrag haben, mit Fans zu arbeiten. Dazu kommen bei allen Vereinen hauptamtliche Fanbeauftragte. Und in Deutschland bekommt kein Verein in den ersten beiden Ligen mehr eine Lizenz, der nicht ein ernsthaftes Dialogformat mit seinen Fans institutionalisiert hat.

Dieser verordnete Dialog sorgt aber offenbar nicht dafür, dass sich Konflikte abschwächen. Oder haben Sie den Eindruck?

Natürlich bewegen wir uns in Teilen auf vermintem Gelände, das ist richtig. Aber der Dialog mit den Fans ist eine große Chance. Über diesen Weg gibt es mittlerweile eine Reihe von Bundesligavereinen, die eine Diskussion über das kontrollierte Abbrennen von Pyro-Technik führen. Ich bin kein Befürworter von Bengalos, keineswegs. Aber ich vergleiche das ein bisschen wie in der Drogenpolitik die Methadon-Programme. Wenn man ein Problem nicht lösen kann – und bei Pyro gelingt das seit Jahrzehnten nicht – ist es nicht unverantwortlich, nach Wegen zu suchen, die Fremd- und Selbstschädigung reduzieren. Ich glaube eben nicht, dass man mit immer härteren, repressiveren Methoden zu einer Lösung kommt, sondern damit das Problem womöglich weiter verschärft.

Aber ist es nicht so, dass es die Ultras selbst sind, die sich auf dieses Spiel nicht einlassen wollen, weil sie dann Regeln folgen müssten, die sie selbst nicht aufgestellt haben?

Hier liegt ein Konfliktpunkt, aber der ist allen bewusst. Mit einem kontrollierten Abbrennen von Pyro-Technik wird man ein unkontrolliertes Abbrennen nicht gänzlich verhindern, aber potenziell reduzieren und bei einigen Spielen die Gewähr haben, dass damit verantwortungsvoll umgegangen wird.

Es gibt Situationen, die jedes Maß überschreiten, wie beim Spiel Dresden gegen Kaiserslautern. Die Polizei schreitet aber sehr selten im Stadion ein. Der Block ist gefühlt eine Tabu-Zone. Mit dem Wissen dieses Vorgehens: Ist das nicht eine Art Freibrief für gewaltbereite Fans oder welche, die mit ihrem Verhalten andere gefährden?

Bei allen staatlichen Maßnahmen gilt generell der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der steht über allem. Über diese entscheiden dann vor Ort die Einsatzleiter und -innen der Polizei. Da kann es auch keine Blaupause geben. Aber mal abgesehen von der Situation in Dresden ist in den Stadien meines Wissens so gut wie nichts geworfen worden, sondern die Bengalos sind in der Hand verblieben. Das zeigt mir, dass diejenigen, die das machen, wissen, dass die Dinger gefährlich sind, aber gleichzeitig versucht haben, verantwortungsvoll damit umzugehen. Dennoch sollten vor der nächsten Saison viele Anstrengungen unternommen werden, diesen Corona-Überschuss wieder in geregeltere Bahnen zu lenken.

Was bewegt die Fans und welchen Einfluss hat das auf ihr Verhalten im Stadion?

Das große Konfliktthema ist die Kommerzialisierung des Sports und die damit verbundene Sorge, dass sich die „Fußball-Blase“ immer weiter von ihrer Basis, den Fans, entfernt. Es treibt alle um, dass irgendwann dieses Band, das alles noch zusammenhält, reißt.

Welches Band meinen Sie?

Die Ungewissheit über den Ausgang des Spiels ist es doch, die so viele Menschen ins Stadion treibt, und dass der Kleine auch den Größeren schlagen kann. Die Pandemie hat hier Abstände zwischen Vereinen eher noch vergrößert als sie geringer gemacht. Die Dauer-Meisterschaft der Bayern ist da nur ein Thema. Das alarmierendste Beispiel war doch die Idee von ein paar superreichen Vereinen mit der „Super League“ einen neuen europäischen Vereins-Wettbewerb ins Leben zu rufen, der das traditionelle Ligen- und Wettbewerbssystems aus den Angeln gehoben hätte.

Das ist ja gescheitert. Warum ist das aus Ihrer Sicht passiert?

Zwei Gründe: Weil die Fans europaweit aufgestanden sind. Und weil die Politik eingeschritten ist. Sie hat verstanden, dass mit dieser „Super League“ die Grundlage des europäischen Sportsystems gefährdet wird. Es wäre das unumkehrbare Zeichen gewesen, dass der Fußball nur noch dem Kommerz unterliegt.

Welche Rolle können DFB und DFL spielen, mehr im Interesse der Fans über den Sport zu verhandeln? Manchmal hat man den Eindruck, Funktionärsetagen und Stadionkurven schauen denselben Fußball, aber leben auf unterschiedlichen Planeten...

Ach, ganz so düster sehe ich das nicht. Der professionelle Fußball in Deutschland besitzt wesentlich mehr partizipatorischere Elemente als andere Ligen in Europa, hierzulande spielen die Interessen der Fans eine größere Rolle. Manch positive Entwicklung kommt aus den gemeinsamen Dialogformaten mit den Fans, manche erst nach jahrelangen Protesten, wie zum Beispiel die Abschaffung der Montagsspiele. Meine Erfahrung ist auch: Aus Fehlern wird gelernt. Ich erinnere an das Endspiel des DFB-Pokals im Jahr 2017. Da kam man auf die Idee, Helene Fischer im Vorprogramm auftreten zu lassen. Die wurde minutenlang vom gesamten Stadion ausgebuht. Seitdem wird auf solche Inszenierungen verzichtet.

Zur Person: Michael Gabriel

geb. 1963 in Klagenfurt, diplomierter Sportwissenschaftler

Zwischen 1992 und 1996 Mitarbeiter des Fan-Projekts bei Eintracht Frankfurt, Schwerpunkt: Hooligans

Seit 1996 Mitarbeiter Koordinationsstelle Fanprojekte, seit 2006 deren Leiter

Verantwortlicher Fanbetreuer bei Herren-Europameisterschaften und Weltmeisterschaften zwischen 1992-2014

Zur Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS):

Die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) wurde 1993 eingerichtet, um die sozialpädagogisch arbeitenden Fanprojekte als Einrichtungen der Jugendarbeit inhaltlich zu begleiten, zu koordinieren und bei der Neugründung weiterer Fanprojekte mitzuwirken. Derzeit gibt es 71 Fanprojekte bundesweit.

Die KOS ist bei der Deutschen Sportjugend in Frankfurt am Main angesiedelt. Sie dient als Schnittstelle zwischen pädagogischer Fanarbeit, Fankultur, Sozialwissenschaft sowie gesellschafts- und sportpolitischen Institutionen. Zudem berät sie Gremien des Fußballs, der Politik und auch die Polizei bei ihrer Arbeit.

Die KOS wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), vom DFB und der DFL finanziert.