Braunschweig. Dank Corona sinkt die Zahl der Opfer von Verkehrsunfällen. Unverhältnismäßig hoch ist jedoch der Anteil der Unfalltoten über 65 Jahren.

Die Pandemie hat die Unfallzahlen in Niedersachsen und in unserer Region sinken lassen. Weniger Mobilität und mehr Homeoffice führten dazu, dass weniger Menschen im Straßenverkehr starben oder schwer verletzt wurden. Das die gute Nachricht, schlechte gibt es aber auch: Mit neuen Mobilitätsformen wie den E-Scootern sind neue Gefahrenquellen hinzukommen. Und: Problematische Tendenzen im Straßenverkehr bleiben bestehen oder haben sich verfestigt. Ein Beispiel dafür ist die wachsende Zahl der im Straßenverkehr getöteten Menschen über 65 Jahren.

Das Niedersächsische Innenministerium verwies in seiner Pressekonferenz Anfang April darauf, dass der Anteil getöteter Seniorinnen und Senioren im Verhältnis zum Anteil an ihrer Gesamtbevölkerung im Jahr 2021 weiter zugenommen hat. Dieser habe landesweit mit 111 Toten bei einer Gesamtzahl von 352 tödlich verunfallten Personen bei mehr als 30 Prozent gelegen. Als Berechnungsgrundlage nimmt das Ministerium den Anteil der Über-65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung. Fast 1,8 Millionen Bürgerinnen und Bürgern stünden somit 8 Millionen Einwohnern gegenüber, was lediglich 22 Prozent entspricht, heißt es aus Hannover. In unserer Region ist der Anteil dieser Alterskohorte an den Unfalltoten insgesamt noch höher. Er lag 2021 bei etwa 37 Prozent.

Unfallforscher: Problem beginnt über 75 Jahren

Die Zeitreihe seit 1991 bis 2020 zeigt die bundesweiten Zahlen der Verunglückten bei Unfällen im Straßenverkehr, sortiert nach den unterschiedlichen Altersgruppen.
Die Zeitreihe seit 1991 bis 2020 zeigt die bundesweiten Zahlen der Verunglückten bei Unfällen im Straßenverkehr, sortiert nach den unterschiedlichen Altersgruppen. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Verkehrsexperten wie Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicher in Deutschland, sieht die Angreifbarkeit von Statistiken ganz generell und mit Blick auf den Verkehr im Besonderen. Er sagt aber auch: „Die Polizeibehörden haben mit der Definition von Senioren ab einem Alter von 65 die Zahlen sogar noch geschönt.“ Die Gruppe zwischen 65 und 75 Jahren sei mit Blick auf die Verkehrssicherheit in Deutschland nicht das Problem. „Das fängt erst darüber an“, sagt Brockmann.

Kommentar: Zwang hilft nie

Klar ist: Statistiken helfen bei der Ursachenforschung nur bedingt. Wer ist Unfallverursacher? Wie kamen die Menschen ums Leben? Im Pkw, als Fußgänger oder auf dem Rad? All das ist auf den ersten Blick unklar. Doch auch hierzu liefert das niedersächsische Innenministerium Einblicke. Die detaillierte Analyse liegt unserer Zeitung vor. Von den im Jahr 2021 getöteten 111 Personen über 65 Jahren waren 50 Personen mit dem Pkw, 30 mit Fahrrad bzw. Pedelec, 20 als Fußgänger und 9 mit dem Motorrad unterwegs, eine Person starb bei der Fahrt mit einem Lastwagen. Eine weitere Person konnte in keine dieser Kategorien eingeordnet werden. Trotz einer statistischen Zunahme, gibt es Konstanten, auf die ein Ministeriumsmitarbeiter im Gespräch mit unserer Zeitung hinweist. Mehr als 70 Prozent der Getöteten in dieser Altersgruppe ist männlich, in fast zwei Drittel aller Fälle wurde der Unfall selbst verursacht.

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Risikogruppen: Ganz jung, sehr alt

Neben den Senioren muss auch die Gruppe der Fahranfänger zwischen 18 und 24 Jahren erwähnt werden. Sie verursachten tödliche Unfälle in einem vergleichbar hohen Maß, allerdings werden sie in Niedersachsen weit seltener Opfer eines Unfalls mit Todesfolge. So starben landesweit 42 Menschen junge Menschen im Straßenverkehr, 31 nutzten ein Kraftfahrzeug, fuhren also Pkw oder Motorrad.

Der Trend, dass ältere Teilnehmer am Straßenverkehr überdurchschnittlich oft getötet beziehungsweise in einen Unfall verwickelt werden, lässt sich auch an Bundesstatiken deutlich ablesen (siehe Grafik). „Während in allen Jahrgängen die Zahlen im Vergleich zum Ausgangsjahr 1991 rückläufig sind, ist in dieser Gruppe der Anteil um 36 Prozent gestiegen“, erklärt Forscher Brockmann. Dabei hält er Alarmismus als Ratgeber für wenig hilfreich. „Ältere Menschen sind in einem Flächenland wie Niedersachsen viel öfter auf das Auto angewiesen als in urbanen Strukturen.“ Deswegen seien die Zahlen nicht direkt vergleichbar. Als Beispiel nennt er Berlin. Hier liefen Senioren viel öfter Gefahr, als Fußgänger überfahren zu werden.

Gemessen allerdings an der wesentlich geringeren Kilometer-Fahrleistung im Vergleich zu anderen Altersstufen, müsse man schon ins Grübeln kommen, sagt Brockmann. Die Wahrscheinlichkeit, in einen Unfall verwickelt zu werden, nehme im Alter deutlich zu.

ADAC: Wenig Resonanz auf Trainingskurse

Pkw-Fahrer als Unfallverursacher Deutschland, aufgelistet nach den Altersgruppen.
Pkw-Fahrer als Unfallverursacher Deutschland, aufgelistet nach den Altersgruppen. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Die neuesten Zahlen der Unfallstatistik werden auch durch die Erfahrungen des ADAC bestätigt. Der Trend, dass unter Seniorinnen und Senioren tödliche Unfälle zunähmen, sei seit Jahren zu beobachten. „Die Menschen sind bis ins hohe Alter fit oder fühlen sich zumindest so“, sagt Christine Rettig, Sprecherin des Autofahrerverbandes für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Es sei oftmals schwer, sich schwindende geistige und körperliche Fitness einzugestehen, sagt sie.

Das Angebot des ADAC „Fit im Auto“, das Fahr- und Fitnesschecks beinhaltet, werde daher nicht übermäßig angenommen. Prävention habe es schwer, wenn die Selbstwahrnehmung eine andere wäre. „Die Menschen sind im Alter oft auf das Auto angewiesen, sie nutzen es für Strecken, die kurz sind und die sie kennen. Dort fühlen sie sich sicher und verkennen oftmals, dass ihre Leistungsfähigkeit nachlässt“, sagt Rettig. Verpflichtende Prüfungen ab einem gewissen Alter, die immer wieder diskutiert werden, hält der ADAC für aktuell nicht umsetzbar. Die Debatte werde aber weitergehen. „Allein schon, weil die demografische Entwicklung uns dazu zwingen wird.“

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Das sagt die Polizei – Erfahrungen aus Präventionskursen

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet auch Jens Weidemann von der Polizeiinspektion Braunschweig. Er und seine Kollegen arbeiten bei Fragen der Verkehrssicherheit und Prävention eng mit der Verkehrswacht zusammen. Er sagt, nicht nur Autounfälle, sondern auch Kollisionen mit Pedelecs (E-Bikes), an denen ältere Menschen beteiligt sind, häuften sich. Oftmals würden hier Geschwindigkeiten falsch eingeschätzt. Weidemann organisiert zusammen mit Fahrschulen Sicherheitstrainings. Diese fänden im fließenden Verkehr, aber auch auf Übungsflächen wie dem ehemaligen Gelände der „Harz+Heide“-Messe statt. Dort komme es zu teils kuriosen Situationen. Einige Teilnehmer wüssten nicht, was bei einer Vollbremsung passiere, hätten noch nie das knarrende Geräusch des einsetzenden ABS gehört, berichtet Weidemann.

Experte Brockmann spricht sich für sogenannte „qualifizierte Rückmeldefahrten“ unter Beteiligung von Prüfern aus. Diese müssten ab einem bestimmten Alter obligatorisch sein, dürften aber nur eine unverbindliche Empfehlung an den „Prüfling“ beinhalten und müssten aufgrund des Datenschutzes anonym erfolgen. Aus diesen Ergebnissen könnte dann eine genauere wissenschaftliche Analyse entspringen. Brockmanns Problem mit freiwilligen Trainings von ADAC oder Verkehrswacht: „Da kommen die hin, die alles im Griff haben. Die wollen Schulterklopfer bekommen und eine Auszeichnung.“ Wer ahne, insbesondere im städtischen Verkehr an kognitive Grenzen zu stoßen, sich dies aber nicht eingestehen wolle, tauche dort nicht auf.

Helfen-Taxi-Gutscheine?

Auch Polizist Weidemann stellt eine gewisse Form der Beratungsresistenz fest, wenn es darum geht, den Führerschein abzugeben. „Bei Angehörigen, die ihre Sorgen äußern, blocken die meisten ab. Experten, aber auch Ärzte, können hier wesentlich mehr ausrichten.“ Neben Aufklärung könnten auch finanzielle Anreize wie ein Taxi-Gutschein Menschen dazu bewegen, das Auto künftig stehen zu lassen, ist Weidemann überzeugt.