Osterode. Ein Hoch auf Seine Majestät den Kaiser: In der Ratswaage wurde am 18. Januar ein großer Festkommers gefeiert.

„Die Deutschen sind heute das glücklichste Volk der Welt“ rief der regierende Bürgermeister von Berlin Walter Momper (SPD) nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 aus. Diese Euphorie und Begeisterung, die damals – fast – alle Menschen ergriff, mag uns heute auch einen Eindruck davon geben, wie die Menschen vor 150 Jahren die Gründung des deutschen Reichs empfunden haben. Tatsächlich wuchs 1871 wie 1989 „zusammen, was zusammen gehört“ wie es Willy Brandt im Hinblick auf die Wiedervereinigung formuliert hatte. Beide Ereignisse – Reichsgründung wie Wiedervereinigung – standen am Ende eines jahrzehntelangen Ringens um die deutsche Einheit. So hatten auch die Ereignisse 1871 auch eine lange Vorgeschichte.

Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Deutschland hatten die Herrschenden auf dem Wiener Kongress die alten Verhältnisse weitgehend wieder hergestellt. Statt eines deutschen Nationalstaates hatte man mit dem Deutschen Bund nur einen Staatenbund geschaffen, und die Hoffnungen der Bürger auf liberale Reformen wurden durch die Restaurationspolitik enttäuscht. So war die Schaffung eines deutschen Nationalstaates auch eine wesentliche Forderung der bürgerlichen Revolution 1848. Der Ruf nach einem geeinten Deutschland war zugleich der Ruf nach einem deutschen Staatswesen, das in einer Verfassung die Grundrechte des Volkes verankern sollte.

Wunsch nach Einheit

Der Wunsch nach Einheit sollte schließlich in Erfüllungen gehen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, als es die Liberalen 1848 erhofft hatten. Der für Preußen siegreiche Krieg von 1866 gegen Österreich und seine Verbündeten (u. a. das Königreich Hannover) hatte zur Gründung des Norddeutschen Bundes geführt. Auch die besiegten süddeutschen Staaten schlossen Bündnisverträge mit den Preußen, so dass die Armeen der einzelnen deutschen Länder 1870 gemeinsam gegen Frankreich in den Krieg zogen (Emser Depesche). Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck führte noch während der Kämpfe intensive Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten über die Gründung eines deutschen Reiches. Während die Regierungen in München oder Stuttgart zunächst noch bestimmte Zugeständnisse einfordern wollten, begeisterte sich die Bevölkerung mehrheitlich für den Nationalstaat, so dass auch die süddeutschen Staaten schließlich einer Reichsgründung zustimmten. Am 18. Januar 1871 erfolgte im Schloss von Versailles die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser. Die deutschen Staaten – ohne Österreich – schlossen sich unter dem Jubel der großen Mehrheit ihrer Bürger zum Deutschen Reich zusammen. Tatsächlich hatten die Fürsten den preußischen König zum deutschen Kaiser ausgerufen – dieser Gründungsakt wurde also ohne die aktive Teilnahme einer Volksvertretung vollzogen.

Dass diese Proklamation am 18. Januar erfolgte war durchaus kein Zufall. Bismarck hatte das Datum bewusst gewählt, um auf dem 18. Januar 1701 hinzuweisen: An diesem Tag war der brandenburgische Kurfürst Friedrich zum König in Preußen gekrönt worden. Diese Rangerhöhung stellte einen wichtigen Meilenstein im Aufstieg Brandenburg-Preußens zur europäischen Großmacht dar, der gleichsam mit der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 einen Abschluss erreichte.

Wie die meisten Deutschen begrüßten auch die Osteroder – die erst 1866 unfreiwillig Preußen geworden waren – die Reichseinigung.

Große Veranstaltungen in Osterode

Der 18. Januar wurde jedoch zunächst nicht als nationaler Feiertag zelebriert, eher wurden die Kaisergeburtstage und der Sedantag (2. September), der an die siegreiche Schlacht 1870 erinnerte, öffentlich im großen Rahmen gefeiert. Erst zum 25. Jahrestag der Reichsgründung beging man diesen Tag auch in Osterode mit einigen größeren Veranstaltungen. So berichtete die Zeitung über ein Theaterstück, das in Osterode aufgeführt wurde: „Einer der Haupterinnerungstage aus Deutschlands großer Zeit ist unbestreitbar der 18. Januar, an welchem unser hochseliger Kaiser Wilhelm I. im Schloß zu Versailles von den dort versammelten Fürsten zum deutschen Kaiser proclamirt wurde. Im ganzen deutschen Reiche werden denn auch für diesen Tag festliche Veranstaltungen vorbereitet, und da ist es selbstverständlich, daß Osterode nicht hinter denen zurückbleibt, die Alles aufbieten, um ihr Bestes zu leisten. So begeht z. B. der hiesige Turnclub diese Erinnerungsfeier schon am Abend des 16. Januar, an welchem von Mitgliedern des genannten Vereins und hiesigen Damen im Saale der Rathswaage ein patriotisches Festspiel aufgeführt wird, betitelt: >>Des deutschen Kaiserreichs Entstehen<< von Albert Ritter. Dasselbe besteht aus 7 Aufzügen, welche sämmtlich mit einem lebenden Bilde, das von dazu passender Musik begleitet wird, schließen. Es führt uns in der ersten Hälfte die Zeit von 1813 vor Augen und kennzeichnet die Barbarenherrschaft Napoleons I.. Die zweite Hälfte ist den Ruhmesjahren Deutschlands 1870/71 gewidmet. Das Festspiel entrollte uns in herzbewegender Weise alle Begebenheiten, durch welche 1813 der Grundstein gelegt wurde, auf welchem 1870/71 das deutsche Reich sich neu erheben konnte. Es malt aber auch ein liebliches Bild von der Einigkeit der deutschen Stämme, als Deutschland von seinem Erbfeind aufs Neue bedroht wurde und als es galt, demselben aufs Haupt zu schlagen. Die in dem Stücke vorkommenden Charactere, unter denen Männer wie Feldmarschall Blücher, Friedrich Ludwig Jahn und Theodor Körner die Hauptplätze einnehmen, sind vom Verfasser wirkungsvoll gezeichnet und werden von den Darstellern, soweit es sich nach den Proben schon beurteilen läßt, vorzüglich wiedergegeben. In den lebenden Bildern treten uns Kaiser Wilhelm I. sowie Bismarck und Moltke in ihrem heldenmäßigen und ehrwürdigen Gestalten vor Augen. Da die Aufführung eine öffentliche ist, so wünschen wir dem Verein, der sich durch dieselbe große Opfer auferlegt hat, einen recht guten Erfolg.“

Bürger schmückten die Häuser mit Fahnen

Auch in den Osteroder Kirchen sollten „die Geistlichen in ihrer Predigt jener großen Zeit gedenken. Zugleich ist die Aufnahme einer erweiterten Fürbitte für König und Vaterland in das an diesem Sonntag zu verlesende Kirchengebet angeordnet worden.“ Zahlreiche Bürger aus Osterode und Freiheit schmückten ihre Häuser mit Fahnen und in den Schulen wurden entsprechende Feiern abgehalten. Die Hauptveranstaltung in Osterode stellte jedoch ein großer Festkommers in der Ratswaage dar. Die von Kreisarzt Dr. med. Konrad Lotze geleitete Veranstaltung begann mit Marschmusik, danach hielt Landrat Heinrich Rottländer eine patriotische Rede und brachte „das Hoch auf Seine Majestät unsern Kaiser aus“. Lehrer Carl Kreibohm gedachte an den „eisernen Kanzler“ Otto von Bismarck, während Zimmermeister Willy Neuse und Kaufmann August Marwedel den Soldaten dankten, die damals den Sieg errungen hatten. Mit dem gemeinsamen Absingen vaterländischer Lieder und einer Spendensammlung für diejenigen, „welche auf dem Felde der Ehre gekämpft haben und sich jetzt in Noth befinden“ schloss die Veranstaltung.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Übergang vom Kaiserreich zur Republik hätte man erwarten können, dass die nunmehr regierenden Sozialdemokraten den 18. Januar als Gedenktag der Reichsgründung 1871 ignorieren. Wurden doch die Hohenzollernkaiser und der Reichskanzler Otto von Bismarck von den meisten SPD-Mitgliedern nur wenig geschätzt. Doch der preußische Kultusminister Konrad Haenisch (SPD) erließ am 6. Januar 1921 folgende Verfügung: „Am 18. Januar sind 50 Jahre vergangen, seit die deutschen Stämme sich zum deutschen Reich zusammengeschlossen haben. Dieser Tag soll an allen Schulen würdig und eindrucksvoll durch eine dem Ernste der Zeit entsprechenden schlichte und stille Feier begangen werden. Über alles Trennende der Meinungen hinaus ist im deutschen Volke das Bewußtsein seiner Einheit lebendig.“ Die Schaffung eines deutschen Nationalstaates wurde als historisch bedeutendes Ereignis ohne Einschränkungen positiv bewertet. Dass diese Reichsgründung durch die Fürsten und ohne parlamentarische Legitimation erfolgte, spielte für Haenisch dabei keine entscheidende Rolle.