Bad Lauterberg. Fritz Kahn, Arzt und Bestseller-Autor aus der Weimarer Zeit, stellte Komplexes verständlich dar. Experte Thilo von Debschitz referierte über ihn.

Welche Länge hat der tägliche Haarwuchs eines Menschen? Auf den Wert 36 Meter wären wohl nicht viele Frisurenträger gekommen. Ein einzelnes Haar wächst zwar höchstens einen halben Millimeterm doch trägt ein durchschnittlicher Mensch 100.000 bis 150.000 Haare auf dem Kopf. So kommt die erstaunliche Gesamtlänge zustande.

Der deutsche Arzt und Autor Fritz Kahn veranschaulichte diesen und viele andere Werte und Maße in einem seiner populärwissenschaftlichen Bücher. Mit Metaphern in Wort und Bild gelang es Kahn in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts komplexe Sachverhalte aus der Natur und der Technik allgemeinverständlich darzustellen. Heute bezeichnet man das zumeist als Info-Grafik. Seine in den Jahren 1922 bis 1931 erschienene Buchreihe „Das Leben des Menschen“ galt als Meisterleistung populärer Wissenschaftsvermittlung und machte den Autor international bekannt.

1933 musste Kahn seine Praxis schließen. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. Er emigrierte mit seiner Familie nach Palästina. Kurz nach der Reichspogromnacht wurden Kahns Bücher 1938 auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt. Anfang 1941 konnte Fritz Kahn mit seiner Frau in die USA emigrieren. Seit 1950 lebte er in New York. Fritz Kahn starb im Januar 1968.

Der Designer und Fritz Kahn-Experte Thilo von Debschitz aus Wiesbaden bei seinem Vortrag.
Der Designer und Fritz Kahn-Experte Thilo von Debschitz aus Wiesbaden bei seinem Vortrag. © Rotary Club Bad Lauterberg-Südharz (Screenshot)

Dem Rotary Club Bad Lauterberg-Südharz war es gelungen, den Designer und Fritz Kahn-Experten Thilo von Debschitz aus Wiesbaden für einen Vortrag über Fritz Kahn zu gewinnen. Von Debschitz ordnete zu Beginn der digitalen Veranstaltung für die Zuhörer die Zeit ein, in der der 1888 geborene Fritz Kahn seine Werke veröffentlichte. Die elektrische Eisenbahn wurde erfunden, von 1925 bis 1930 verdreifachte sich die Zahl der Strom versorgten Haushalte in Berlin, am Telefon meldete sich das Fräulein vom Amt, die über 4000 Tageszeitungen waren der Deutschen wichtigste Informationsquelle. Film-Paläste sprossen wie Pilze aus dem Boden, 1924 wurde der regelmäßige Radiobetrieb eingeführt und, so von Debitsch, „für uns heute kaum vorstellbar, in nur vier Jahren wurde der Berliner Flughafen Tempelhof fertiggebaut“.

Die leistungsfähigste Maschine, der Mensch

Fritz Kahn, so der Referent, habe den Menschen als „leistungsfähigste Maschine der Welt“ beschrieben. Seine Illustrationen habe er nach seinen Vorgaben von Zeichnern in Berlin, New York und Kopenhagen anfertigen lassen. Kahns Hauptwerk, die Serie von fünf Bänden „Das Leben des Menschen“ sei sofort ein echter Bestseller geworden, so Thilo von Debschitz. „Das Besondere an diesem populärwissenschaftlichen Publikationen ist ein bis dahin unbekannt hoher Anteil an Abbildungen. Diese fünf Bücher enthielten 1200 Illustrationen.“ So habe Fritz Kahn Unterhaltung und Information vereint.

Für die Erklärung der Bekleidung in Bezug auf die Körperwärme verwendete Kahn eine Analogie zwischen Mensch und Thermoskanne.
Für die Erklärung der Bekleidung in Bezug auf die Körperwärme verwendete Kahn eine Analogie zwischen Mensch und Thermoskanne. © Rotary Club Bad Lauterberg-Südharz (Screenshot)

In dem riesigen Schatz von Visualisierungsmethoden wurden unter anderem Vorgänge, die sich zwischen der Geruchsempfindung und den Speichelfluss abspielen, dargestellt. Kahn ließ diese Vorgänge im menschlichen Körper beispielsweise als einen Prozess in einem Industrielabor visualisieren. Kahn verdeutlichte auch den Sachverhalt „Wie entsteht eine Erektion?“ Erotischer Impuls ist eine unbekleidete Frau als Metapher für geschlechtliche Erregung, sie setzt im Kopf eine Kugel in Bewegung und muss zunächst moralische Widerstände überwinden, bevor sie in Bewegung gerät und in einem Prozess über das Rückenmark bis zu den Schwellkörperadern gelangt.

Fritz Kahn verglich nicht nur Teile des menschlichen Körpers mit technischen Geräten, sondern er stellte beispielsweise eine Walnussschale dem Schädel gegenüber, um die interessanten Übereinstimmungen im Aufbau zu verdeutlichen. Die äußere Schale ist bei beiden so fest, dass sie ihr Innenleben sicher schützt. Für die Erklärung der Bedeutung der Bekleidung in Bezug auf die Körperwärme verwendete Kahn eine Analogie zwischen Mensch und Thermosflasche. „Man sieht einen Mann mit verschiedenen Kleidungsschichten, daneben die verschiedenen Schichten der Thermoskanne.“

Anschauliches Bild: Das menschliche Schienbein würde dem Gewicht von 20 Männern standhalten.
Anschauliches Bild: Das menschliche Schienbein würde dem Gewicht von 20 Männern standhalten. © Rotary Club Bad Lauterberg-Südharz (Screenshot)

Kahns Anliegen war immer wieder, die große Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers darzustellen. So sei das Schienbein der kräftigste der großen Knochen und so widerstandsfähig, dass es 1650 kg Belastung aushalte, das entspreche dem Gewicht von 20 Männern, die auf einem Schienbein stehen könnten, ohne dass es breche. Kahn zeigte seinen Zeitgenossen auch, dass im menschlichen Körper achteinhalb Meter Darm untergebracht seien, der Mensch über 25 Billionen Blutkörperchen verfüge, die, wenn man sie aneinanderreihe, als Kette viermal um den Globus reichten. „Oder schauen wir uns mit Kahn die Arbeitsleistung des Herzens an“ so Thilo von Debschitz, „das Herz könnte einen Fahrstuhl in 40 Minuten fünf Stockwerke hoch treiben.“

Fritz Kahn hat die Telemedizin vorausgesehen

Fritz Kahn zeichnete auch das Bild eines Arztes, der einen Patienten auf der anderen Seite des Globus im Bauch eines Kreuzfahrtschiffes per Bildschirmübertragung diagnostizierte. Er sagte so die Telemedizin voraus, und zwar 50 Jahre, bevor sie wirklich genutzt wurde. Heute, so von Debschitz, fänden wir in allen Teilen der Welt unzählige Interpretationen von Kahns berühmtesten Motiv, dem Industriepalast. Selbst in der neuesten Staffel der TV-Serie Babylon Berlin habe Kahn einen Platz gefunden.

Zur Person: Thilo von Debschitz ist Designer, Autor und Buch-Herausgeber. Er forschte gemeinsam mit seiner Schwester Uta, um das Werk von Fritz Kahn wieder sichtbar zu machen. 2009 erschien ihre erste Monografie zu Kahn. Die Wiederentdeckung Kahns durch die Geschwister von Debschitz sei laut Wikipedia weltweit auf große Beachtung gestoßen, in zahlreichen Rezensionen der Debschitz-Bücher wurde Kahns Bedeutung als Pionier bei der Visualisierung von Informationen hervorgehoben. Das US-amerikanische Magazin Fast Company zählte die Monografie zu den besten Designbüchern des Jahres 2013 und erklärte Fritz Kahn zum „Grandfather of Data Visualization“, außerdem wurde „Fritz Kahn“ 2014 zum Wissensbuch des Jahres in der Kategorie „Ästhetik“ nominiert. Thilo von Debschitz ist Mitglied des Rotary Clubs Wiesbaden-Kochbrunnen.