Göttingen. Die erste Premiere der Spielzeit am Deutschen Theater Göttingen ist gemeistert. „Der Schimmelreiter“, inszeniert von Daniel Foerster, war ausverkauft.

Die erste Premiere der Spielzeit im Deutschen Theater Göttingen ist nach mehreren Auf- und Abgängen der Schauspieler Gabriel von Berlepsch, Nathalie Thiede, Bettina Grahs, Gerd Zinck und Lukas Beeler unter anhaltendem Applaus gemeistert. „Der Schimmelreiter“ nach Theodor Storm ist es geworden – eine 1888 vollendete Novelle, die sich um Flut und Naturgewalt, um menschliche Hybris und den Drang zu vollenden dreht.

Ein aktuelles Stück angesichts des Klimawandels, auch wenn es nah am historischen Stoff bleibt – ergänzt durch Textpassagen anderen Ursprungs. Der in Göttingen geborene Regisseur Daniel Foerster hat die Novelle inszeniert, Mariam Haas zeichnet für Bühne und Kostüme verantwortlich. Die Premiere war ausverkauft, die kommenden Vorstellungen sind es weitgehend auch.

Der Sound brandender Wellen

Doch was erwartet die Zuschauer? Zuerst ein stürmisches Meer, das trotzdem Ruhe ausstrahlt. Der Sound brandender Wellen nehmen die Sinne mit auf eine Reise. Der Saal ist getaucht in Blau, das Bühnenbild schwierig zu bespielen. Ein Wellengebilde begrenzt die Bühne, eine Steilwand macht die Auftritte schwer. Darunter: Eine schmale Schräge und erneut eine Kante. Das Meer rauscht, im Hintergrund der Schriftzug „GEISTER“ – aus Eis? Im Laufe des etwa 100-minütigen Abends werden die Buchstaben nach und nach abbrechen und fallen. Genau wie die Sicherheit, den eigenen Augen und Einschätzungen trauen zu können. So geht es auch den Dorfbewohnern beim Anblick eines gespenstischen Pferds.

Der Text beginnt als Monolog, steigert sich aber schnell in Dialoge bis zum Auftritt aller fünf Spieler. Von ruhig zu laut in wenigen Minuten. Mal chorisch skandiert, mal leise erzählt, nimmt das Ensemble das Publikum mit auf den Lebensweg von Hauke Haien (Lukas Beeler), der schon als Kind einen großen, sicheren Deich bauen will. Doch nur der Deichgraf kann darüber bestimmen. Für dieses Amt fehlt seinem Vater (Gerd Zinck) und ihm das nötige Land. Doch Hauke lässt sich nicht beirren – zurecht? Beeler gibt Hauke das, was die Figur ausmacht – eine Mischung aus dem umsichtigen jungen Mann mit einem Faible für Technik, Konstruktion und Mathematik und dem, der sich von Emotionen und Selbstüberschätzung hinreißen lässt.

Obwohl die Vernunft es anders rät

Deutlich wird das erstmals, als Trien Jans (Zinck verkörpert mit wechselndem Gewand drei Figuren und das Dorf) seinen toten Angorakater zeigt und Hauke damit konfrontiert. Der rechtfertigt sich – der Kater habe nach einem von Hauke erlegten Vogel geschnappt und seine Krallen in das Menschenbein gegraben. Darauf schlug er ihn tot.

Der weiße Kater ist die eine tierische Figur auf der Bühne, die zweite ist Haukes Schimmel (Grahs). Den erwirbt er erst, als er die Tochter des Deichgrafen, Elke Volkerts (Thiede), schon geheiratet hat und die lange ersehnte Position des Deichgrafen erhält. Bis dahin muss Hauke für seine Konstruktion und gegen seine Widersacher kämpfen, angeführt von Ole Peters (von Berlepsch), der in Lederkluft mit aller Gemeinheit den Großknecht mimt, unter dem Hauke als Kleinknecht leiden muss – und doch besteht.

Hauke schwingt sich unter dem Deichgrafen empor auf Oles Posten. Berlepsch zeigt mit ganzer schauspielerischer Bandbreite, wie sehr Ole dieser Machtwechsel zuwider ist. Als neuer Deichgraf fordert Hauke alles von seinen Arbeitern – auch bedingungslosen Gehorsam, obwohl die Vernunft anderes rät. Tiede zeigt die sorgende und im Hintergrund stehende Ehefrau, die mit anpacken muss und das lang ersehnte Kind Wienke (Grahs) zur Welt bringt. Der Deichbau beginnt und damit die lange Erzählung von Haukes Hybris, dem Geläster des Dorfes, der vielen Arbeit und letztlich dem Erfolg – bis die Flut kommt. Darin enden seine Ehefrau und Wienke, nachdem der alte Deich bricht, weil Hauke seinen neu gefertigten trotz aller Bedenken anderer nicht aufgeben will. Das tosende Inferno, als er sich selbst samt Schimmel hinterher stürzt, bleibt aus. Der Schimmel und sein Reiter gehen unter – und die Stille erobert sich den Raum zurück.

Kaum Stille in Foersters Inszenierung

Stille gibt es kaum in Foersters Inszenierung. Die knapp 80 Seiten Text dringen an die Ohren, die Wechsel der Rollen und Situationen greifen ineinander, Schweiß fließt. Die einzige vermeintliche Ruhe liegt im Bühnenbild. Doch die überschätzte Ruhe des Meers wird dem Protagonisten zum Verhängnis – so wie den Menschen heute, die angesichts Klimakatastrophen klein und hilflos erscheinen.

Die Spieler, mal als Sprecher direkt, dann wieder auf der Metaebene mit vielen Worten und vollem Körpereinsatz, erzählen Storms alte Geschichte – und lösen damit die Frage nach der Zukunft aus. Auf dem Weg ins Foyer fragt eine Zuschauerin ihre Begleitung, wann genau „Fridays for Future“ demonstrieren – ein kurzes Lachen, dann ein ernster Blick. Die Aktualität des Texts ist angekommen.

Die weiteren Vorstellungen am 3. Oktober, 13. Oktober und 19. Oktober, jeweils um 20 Uhr, sind ausverkauft. Restkarten gibt es gegebenenfalls an der Abendkasse oder unter Telefon 0551/4969300. Pro Karte werden 18 Euro fällig, ermäßigt 11 Euro.