Göttingen. 75 Jahre nach Kriegsende erinnern Gesichter und deren Geschichten im Alten Rathaus an das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit.

Sie heißen Yehuda, Kola, Eva und Vera. Und sie leben noch heute unter uns. Vier Kinder, die die Hölle von Auschwitz überlebt haben. Ihre Namen, ihre Gesichter und Geschichten sind Gegenstand der Ausstellung „Vergiss Deinen Namen nicht – die Kinder von Auschwitz.“ Die Bilder und Texte sind ab sofort im Alten Rathaus in Göttingen zu sehen.

Zur Eröffnung der Ausstellung unter Corona-Bedingungen am Sonntag sprachen Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD), der Göttinger Verleger Gerhard Steidl und der Autor und Filmemacher Alwin Meyer. Seine Arbeit ist in der Schau zu sehen. Anlass, so erklärte es Hilmar Beck vom Kulturamt zu Beginn, ist der 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus.

„Diese Bilder und Texte machen das Unfassbare deutlich”, sagte Köhler. Sie seien „erschreckend und berührend zugleich”. Deshalb sei es so wichtig, solch eine Ausstellung zu zeigen. Auf den großflächigen Tafeln in der Ausstellung sind Fotos der Kinder zu sehen und ihre Geschichten zu lesen.

„Deutschland hat ein ernsthaftes Problem“

„Gerade jetzt”, so Köhler, sei es nötig, sich der Erinnerung zu stellen. 75 Jahre nach Kriegsende werden, so der Oberbürgermeister weiter, wieder Attentate auf Juden und Synagogen verübt, werden Muslime erschossen, Politiker ermordet. „Deutschland hat ein ernsthaftes Problem”, sagte er. Die Arbeit Alwin Meyers trage dazu bei, dass die Folgen der NS-Zeit sichtbar bleiben.

Steidl erklärte kurz, dass er Meyer bereits seit Beginn der 1970er-Jahre kenne. „Er hat mir nahe gebracht, was man in den ehemaligen Konzentrationslagern, in den Hallen und Kellern noch finden konnte”, sagt der Verleger. Damals habe es noch „Aktenberge” gegeben, die niemand gesichtet hatte. Meyer sei seit 1972 auf den Spuren der Kinder von Auschwitz, finde noch heute Überlebende. „Was für eine Lebensleistung”, so Steidl.

Meyer, der nach eigenen Angaben „in den nächsten Tagen 70 Jahre alt wird”, erklärte, dass er bislang weltweit 80 Kinder aufgespürt habe, die ein KZ überlebt haben. „22 davon leben noch”, so der Autor. „Auschwitz lebt weiter”, sagt er.

In seinem Vortrag zeigte er Bilder von Kindern, von Familien und vom Lager. Bilder von Kindern wie Vera und Olga Gassmann, die Versuche des Naziverbrechers Josef Mengele über sich ergehen lassen musste. Kinder wie Kola, der von einer polnischen Familie gerettet wurde und noch jahrelang Essen aus dem Müll klaubte und in seinem Zimmer versteckte.

Das Kind mit dem Regenschirm in der Hand – es hat einen Namen. Es heißt Kola. Und es hat eine Geschichte, die bis heute untrennbar mit dem Grauen seiner frühen Kindheit verknüpft ist. Die Tochter des ehemaligen KZ-Gefangenen Kola lebt heute in Krakau.

„Diese Kinder von Auschwitz kannten nur die Welt des Todes”, sagte Meyer. Dass Menschen auch einfach sterben können, das hätten viele nicht gewusst. In ihrer Welt wurden Menschen von anderen Menschen getötet. Meyer ist um die Welt gereist, um die Kinder von Auschwitz zu treffen und ihre Geschichten zu erzählen. So wie die von Lidia, deren Mutter bei der Trennung im KZ zu ihrer Tochter sagte: „Vergiss Deinen Namen nicht.“ Heute ist das der Titel der Ausstellung.

Nach ihrer Befreiung kannten viele der Kinder, die nach Auschwitz verschleppt oder dort geboren wurden, weder ihren Namen, ihr Alter noch ihre Herkunft. Für die NS-Verbrecher waren sie eine Nummer, eintätowiert in die Haut. Nicht selten dauert es Jahrzehnte, bis die Kinder Angehörige wiederfanden. „Keines der Kinder konnte Auschwitz je vergessen”, so Meyer.

Auch Yehuda Bacon nicht. Er lebt heute in Israel, hat Deutschland aber mehrfach besucht. Auf die Frage, warum, habe er Meyer geantwortet, dass er keinen Hass zulassen wolle: „Ich will nicht, dass die Nazis aus mir einen Nazi machen.”