Herzberg. Die Göttinger Schauspieler stille hunde waren für ein literarisches Roulette zu Gast im Rittersaal.

Was die Interpretation von Literatur anbelangt sind Stefan Dehler und Christoph Huber unbestritten die Nummer eins in der Region. Als stille hunde stellten sie dies am Freitag mit dem literarischen Roulette im Schloss Herzberg unter Beweis. Freches Kabarett oder gewagte Neuinterpretation. Die Arbeit mit den Perlen der Weltliteratur wurde auf alle Fälle zum Festival der Mimik.

36 Texte hängen mit Nummern versehen an zwei Stellwänden auf der Bühne. Dazu kommen 37 Nummern in einem Lostopf. Christoph Huber wählt die Zuschauer aus, die die Lose ziehen dürfen. Der Zufall bestimmt das Programm. Bevor es damit losgeht, gibt es aber noch einen amüsanten Seitenhieb auf den Literaturbetrieb. In den Rollen des enttäuschten Schriftstellers und des entnervten Kritikers liefern Dehler und Huber ein Feuerwerk der Plattitüden ab. Sie lassen keine der Formulierungen aus, die den Diskurs über Geschriebenes prägen. Damit wird deutlich, dass eben vieles im Literaturbetrieb beliebig und austauschbar ist.

Stefan Dehler ist der Spätberufene, der seinen Roman durchaus in einer Reihe mit den großen Werken sieht. Schließlich geht es in „Liegen gelassenes Leben“ um eine Bahnfahrt nach Osnabrück, die 60 Jahre dauert und nie ihr Ziel findet, weil in Hannover der Anschluss verpasst wird. Allein dieses Konstrukt ist schon großartig. Aber das verkannte Genie lädt seine Banalitäten so sehr mit Phrasen auf, dass es zum Kabarett wird. Dieser latenten Aggression kann der desinteressierte Kritiker nichts entgegensetzen.

Aber dann geht es los. Die erste Zuschauerin zieht und es ist die „Null“. Das Lachen ist groß, die Stimmung von Anfang an da. Sie wird mit einer Flasche Schierker Feuerstein belohnt und Dehler und Huber beweisen, dass sie noch etwas perfekt beherrschen: die Zuhörer einbeziehen. Wie jede andere Vorstellung der stillen hunde ist auch das literarische Roulette ein Spiel mit dem Publikum.

Sich dem Glückslos auszusetzen, zeugt von einer Menge Selbstvertrauen. Die stillen hunde haben es, weil sie ihr Metier beherrschen. Da kann man sich ohne große Vorbereitung schon mal in Sekundenschnelle von einem Text zum anderen schwingen. Dies machen sie gleich mit der ersten Geschichte deutlich. Es ist „Fanny Hill“ von Cleland, die Geschichte einer Prostituierten im England des 18. Jahrhunderts. Das Fazit vorweg: Bei allen Klamauk wird deutlich, dass Fanny Hill wie eine Ware verschachert wird.

Im Gegensatz zu den sonstigen szenischen Lesungen müssen Huber und Dehler auf Requisiten verzichten, es bleiben nur das Pult und ein Sakko. Das wird später zweckentfremdet. Ihr Vortrag ist Schauspiel komprimiert auf aller kleinsten Raum. Ein Festival aus Mimik, Rhetorik und Gesten. Jeder Gesichtszug passt. Die Pausen im Vortrag sind richtig gesetzt. Neue Rollenwechsel werden mit neuen Stimmlagen angekündigt und die Akzente genau gesetzt. Eine ungewöhnliche Betonung eröffnet neue Perspektiven auf Bekanntes. Der Sprung von einer Rolle in die nächste gelingt ohne Übergang. Das spricht für die perfekte Beherrschung des Textes und des Handwerks.

So wird auch ein Sachtext wie eine Rezension von Kurt Tucholsky zu einem Erlebnis. Aus dröger Literaturkritik wird ein Lacherfolg. Aber die stillen hunde können auch Hintersinn. Das zeigen sie mit dem Raben Jakob Krakel-Kakel aus den wenig bekannten Tiergeschichten von Manfred Kybel. In dieser Parabel über den täglichen Ehekrieg steckt so viel Süffisanz über Betrug und Rache, dass das Lachen am Ende auch eine befreiende Wirkung hat. Gerade diese Geschichte lebt von den Spannungen, die beide Darsteller immer wieder gern inszenieren. Die Rollenverteilung bleibt die Gewohnte: der feinsinnige Dehler gegen den holprigen Huber. Gegenseitige Frotzeleien gehören einfach dazu und jeder kann sich eine Identifikationsfigur aussuchen. Auf alle Fälle bekommt Pöhlde wieder eine Portion Spott ab. Aber das macht dem Publikum nichts aus.

Die stillen hunde können nicht nur Hintersinn und literarischen Comedy. Sie können auch Kopfkino. Das geht an, als das Losglück das Schlusskapitel von Moby-Dick aufruft. Jetzt ist Schluss mit lustig. Dehler steigert sich so sehr in die Rolle des Käpt’n Ahaabs, dass dem Publikum in den ersten Reihen durchaus Angst und Bange wird. Der Wahnsinn steht ihm ins Gesichts geschrieben. Niemand lacht mehr und das Publikum wird zu den tot geweihten Matrosen, die bald Mann für Mann über Bord gehen. Nur das Schleudern der Harpunen sorgt für kurze Pausen in der Anspannung. Dieser Vortrag macht deutlich, wer hier Täter und Opfer ist. Das Tier reagiert nur auf den abgrundtiefen Hass des Käpt’ns und ist damit menschlicher als der Mensch.

Die Darsteller hatten ein Zeitlimit gesetzt. Zweimal 45 Minuten hieß das, aber am Ende wurde es dann doch fast drei Stunden. Offensichtlich haben Huber und Dehler selbst Spaß an diesem Treiben und diesen Spaß können sie auf einzigartige Art und Weise vermitteln.