Göttingen. „Das Leben auf der Praça Roosevelt“ wird im Deutschen Theater Göttingen auf die Bühne gebracht.

Es mag abgedroschen klingen, aber diese Aufführung geht unter die Haut. Für das Deutsche Theater Göttingen hat Aurelius Śmigiel „Das Leben auf der Praça Roosevelt“ auf die Bühne gebracht und seine Inszenierung zeigt einen Blick auf die Enttäuschten, die aber nicht in Verzweiflung zurückbleiben.

Die Praça Roosevelt ist ein Platz in der brasilianischen Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. Eine neogotische Kirche ist umstanden von Platanen und Hochhäusern. Gebaut in den 1960er Jahren als ein Versprechen auf eine bessere Zukunft, ist er nun die Heimat von Dealern, Nutten und Ausgegrenzten. Zwischen die Bordelle reihen sich Büros, Spielhallen und kleine Gewerbebetriebe. Die Autorin Dea Loher hat den Ort während ihres Brasilien-Aufenthalts kennengelernt. Ihre Erfahrungen hat sie 2012 zu einem Stück verarbeitet – das zeigt sich weder als Tragödie noch als Drama, obwohl es von beiden viel hat. Es ist einfach ein hartes Stück Dokumentationstheater.

Konfrontation mit Realität ist eine Herausforderung

Diese Konfrontation mit einer Realität außerhalb des Theatersaals ist für das Publikum durchaus eine Herausforderung. Bei der Premiere trifft Villa auf Pappkarton, Pensionsansprüche auf Sammelbüchse. Betretenes Schweigen unterbrochen von Gekicher. Dabei ist Göttingens Praça Roosevelt doch gar nicht so weit weg: Sie heißt Iduna Zentrum und steht am Weender Tor.

Jósef Halldórson konnte der Verlockung widerstehen. Sein Bühnenbild zeigt eben keinen Platz. Es ist reduziert und aufgeräumt. Es wirkt wie eine Mischung aus Malewitsch und Dali. Die Reduktion löst die Inszenierung ein wenig aus Zeit und Raum und verlagert das Geschehen ins Allgemeingültige.

Die Lebenslinien der Akteure treffen sich auf der Drehbühne. Je nach Szene rückt diese eine Kulisse in den Vordergrund. Zum Auftakt steht ein Bett im Vordergrund. Seine massiven Eisenstäbe erinnern an ein Gefängnis. Hier dämmert der Streifenpolizist Mirador dem Tod entgegen. Seine Frau besucht ihn nach langer Zeit und erzählt vom gemeinsamen Sohn, der eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Dafür macht sie ihren Mann verantwortlich.

Immer wieder kreuzen sich die Wege, eines zieht anderes nach sich

In der Retrospektive erzählt er davon, wie es zur Katastrophe kam und wie er seinen Sohn schon verloren hatte, lange bevor er starb. Dabei ist die Erzählung durchaus vielschichtig. Alles hängt mit allem zusammen. Immer wieder kreuzen sich die Wege, zieht das eine das andere nach sich.

Die letzte Chance, um aus der Abwärtsspirale zu entkommen, wäre für Miradors Sohn eine Anstellung bei Vito. Doch der wird seine Fabrik schließen, weil er keine Waffen mehr herstellen möchte, weil er beobachtet hat, wie Mirador mit einer Waffe aus seiner Produktion auf seinen Sohn gezielt hat. Damit werden die beiden zu Verbindungspunkte in der Abfolge der Szenen.

Egal, welche Entscheidung du triffst, sie ist falsch. Das arbeitet Śmigiel bestens heraus. Vito will die Spirale der Gewalt nicht mehr unterstützen und schließt seine Fabriken. Damit liefert er seine Mitarbeiter dem Elend und der Gewalt aus. Irgendjemand bezahlt immer.

Dabei lebt die Inszenierung von einem irritierenden Widerspruch. Trotz der mehr als schwierigen Lage, in der sich die Akteure befinden, tragen sie eine Gelassenheit zur Schau, die anfangs befremdlich wirkt. Paul Wenning in der Rolle des Streifenpolizisten Mirador trägt seinen Text so lakonisch vor, dass es fast schon eine Provokation ist. Wo andere große Emotionen präsentieren würden, beeindruckt er mit Souveränität dem Schicksal gegenüber. Das lässt er in ausreichenden Kunstpausen wirken.

Wenning glückt die umfassende Charakterisierung

Dazwischen schimmert immer wieder die Überforderung eines Mannes hindurch, der seine Welt nicht ganz begreifen kann oder will. Denn diese Welt funktioniert nicht nach seinen Regeln und damit kann sich Mirador nicht arrangieren. Damit ist Wenning eine umfassende Charakterisierung geglückt.

Auch Vitos Verzweiflung ist anfangs eine Stille. Erst in der Sportbar-Szene dreht Christoph Türkay in dieser Rolle auf. Die rasanten Wechsel zwischen zu Tode betrübt und rasender Wut gelingen ihm wunderbar. Umso schöner ist es, als Judith Strößenreuter ihm mit dem Wort „Bin-go-hal-le“ erdet und aus dem Elfenbeinturm holt. Nun blitzt ein helles Licht der Hoffnung auf. Man muss einfach weitermachen mit dem Mut der Verzweifelten.

Diese Lakonie geht bis an die Grenze des Erträglichen, als Gerd Zinck in der Rolle des Transvestiten Aurora davon erzählt, wie er einst als zwölfjähriger Knabe vom Nachbarn vergewaltigt wurde. Wie sein Versuch, diese Tat zum finanziellen Vorteil zu drehen, durch die Cleverness des Täters zu Nichte gemacht wird. Das ist schon starker Tobak und Zinck bringt ihn emotionslos auf die Bühne. Dennoch schafft er es, einen Rest an Lebensfreude zu bewahren. Damit ist diese Figur ein kompletter Mensch.

Die stärkste Leistung hinterlässt aber Andrea Strube in der Rolle der Concha: Als Vitos Sekretärin von der Arbeitslosigkeit bedroht und vom Krebs gezeichnet, ist sie immer wieder bemüht, andere zu trösten und ihnen zu einem kleinen Glück zu verhelfen. Strube macht dies ohne große Gesten mit einer Selbstverständlichkeit, die berührt. Es ist diese Spannung aus schwerem Schicksal und bedächtigem Vortrag und gebremstem Spiel, die diese Inszenierung prägt. Sie ist ganz anders als erwartet und damit überrascht und irritiert sie. Deswegen ist diese Aufführung berührend. Man muss sich mit dem Schicksal abfinden, sonst kann man es nicht ertragen.

Deswegen erzeugt Roman Majewski wohl auch das größte Schweigen als der Mann mit dem Koffer. Dieser Koffer, ein Anzug und ein Handy sind sein ganzer Besitz und die letzten Insignien seiner einst bürgerlichen Existenz. Hektisch strampelnd wie ein Ertrinkender versucht er zurückzufinden in die Berufswelt. Doch das Publikum ahnt, dass ihm das nicht gelingen wird. Er kann sein Unglück nur abmildern, indem er einen anderen Unglücklichen die Schuhe klaut. Der Rest ist Schweigen im Parkett.

Gewalt und Tod kommen nicht auf die Bühne. Diese finden nur in den Texten statt. Somit erlebt das Publikum nicht nur die Verarbeitung dieser Ereignisse. Nein, sie schleichen sich so auch in die Köpfe der Zuhörer. Śmigiels Inszenierung ist Kopftheater. Damit ist das Publikum durchaus gefordert. Es schließt die Lücken zwischen den Einzelszenen. Nicht eingehaltene Zukunftsversprechen, sozialer Abstieg und Gewalt sind unbequeme Themen. Dea Loher hat sie in „Das Leben auf der Praça Roosevelt“ thematisiert. Aurelius Śmigiel hat eine Interpretation vorgelegt, die deswegen wirkt, weil sie nicht auf Emotion setzt, sondern auf Reduktion. Damit entbindet er die Handlungen und Szenen von Zeit und Ort und gibt eine analytische Ebene. Diese Kopfarbeit macht sie umso beeindruckender.

Weitere Vorführungen von „Das Leben auf der Praça Roosevelt“ am Deutschen Theater Göttingen sind am 7. Februar, 21. Februar, 24. März, 1. April, 8. April und 12. Mai jeweils um 19.45 Uhr geplant. Tickets gibt es an der Theaterkasse des DT, Theaterplatz 11 in Göttingen, unter Telefon 0551/4969300 sowie online unter www.dt-goettingen.de.