Göttingen. Stadt- und Kreiselternrat organisieren eine Diskussion unter dem Motto „Hinschauen statt abhauen“.

Es war ein Schock für die ganze Familie: Als Paul an dem Mittag mit geröteten und verweinten Augen nach Haus kam, schluchzte er noch immer. Der Bluterguss am Hals fiel seiner Mutter sofort auf. Der Kragen der Jacke war zerrissen, Pauls Brille verbogen. Nur langsam und stockend erzählte der Zehnjährige, was in der Schule passiert war: Ein Mitschüler hatte ihn aus einem banalen Anlass geschubst, brutal getreten und schließlich lange gewürgt.

Diese Geschichte aus einer Göttinger Schule ist stark verfremdet, Gewalt an Schulen aber ist erschreckend real. Immer wieder werden Schüler von Mitschülern körperlich misshandelt – im Streit, im Wutanfall und gezielt als physische Form von Mobbing.

2017 bundesweit etwa 16. 000 Fälle

Nach Polizeistatistiken gab es 2017 bundesweit etwa 16. 000 Fälle von Gewalt an Schulen – Tendenz steigend. Im Bereich der Polizeiinspektion Göttingen (noch ohne Altkreis Osterode) waren es in dem Jahr 92 Fälle, im vergangenen Jahr 75. Der Rückgang aber muss nichts bedeuten – „er bewegt sich im Rahmen üblicher statistischer Schwankungen“, sagt Jacqueline Emmermann, Beauftragte für Jugendsachen im Präventionsteam der Göttinger Polizei.

Für die Eltern von Paul war der Fall eigentlich eindeutig: Ihr Kind war unverschuldet Opfer von Brutalität geworden. Der Täter sollte zur Verantwortung gezogen und vielleicht auch bestraft werden. Und natürlich sollte er (wieder) auf den richtigen Weg gebracht werden, um weitere Fälle zu verhindern.

Was sie dann erlebte, entsetzte die Familie aber kaum weniger als die inzwischen bestätigte Kehlkopfquetschung bei Paul: verunsicherte Lehrer, die sich an erster Stelle gegen den Vorwurf wehrten, ihrer Aufsichtspflicht auf dem Pausenhof nicht nachgekommen zu sein; eine Schulleitung, die den Fall intern und mit wenig Aufsehen lösen wollte; erneute Angriffe des unkontrollierten Schülers gegen Paul; Vorwürfe schließlich gegen Paul und seine Eltern als vermeintliche Aufwiegler. Und als sie nicht nachließen, der Rat der Schulleitung, Paul solle die Schule wechseln.

Diese und andere Geschichten haben inzwischen den Göttinger Kreis- und den Stadtelternrat auf den Plan gerufen. Sie haben nachgehakt und recherchiert. Ihre bisherigen Ergebnisse: Es gibt viele solcher Fälle. Manche Schulen reagieren nur wenig oder falsch, andere genau richtig. Es gibt einen Erlass des Landes zum Thema Gewalt an Schulen, der von Schulen Präventionskonzepte einfordert, aber auch Handlungsmöglichkeiten vorgibt, wenn etwas passiert ist. Schule, Polizei, Gerichte und weitere Institutionen sollen dabei eng zusammenarbeiten – zum Wohle der Opfer, aber auch der Täter.

Besondere Programme und Berater

Polizei und Jugendgericht in Göttingen sind darauf längst mit besonderen Programmen und Beratern eingestellt. Allerdings nicht alle Schulen. Auf Wunsch des Stadtelternrates hat die Stadtverwaltung bei ihren Schulen abgefragt, ob sie das per Erlass geforderte Sicherheits- und Präventionskonzept erarbeitet haben.

Von 31 Schulen haben elf ein Konzept vorgelegt. „Manche davon sind sehr gut und werden auch löblich umgesetzt“, sagt Sven Müller vom Stadtelternrat, „manche sind aber auch schlicht sehr schlecht.“

Info- und Diskussionsabend

Unter dem Motto: „Hinschauen statt abhauen!“ haben Stadt- und Kreiselternrat jetzt einen Info- und Diskussionsabend organisiert. Er soll vor allem Eltern, aber auch Lehrern, Sicherheit geben und sie darüber informieren, welche Rechte Kinder als Opfer, aber auch als Täter haben. Und welche Wege es gibt, Opfern wie Tätern zu helfen.

Diese und weitere Fragen beantworten am Dienstag, 12. November, Mike Finke (Landeselternrat), Jaqueline Emmermann und Jörg Arnecke (Präventionsteam Polizei Göttingen), Alp Turan (Landesschulbehörde), der Göttinger Jugendrichter Stefan Scherrer und Schüler. Moderation: Ulrich Schubert, Göttinger Tageblatt. Beginn ist um 18.30 Uhr in der IGS Geismar, Schulweg 22.