Göttingen. Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat in Göttingen seine Fotoausstellung eröffnet und beim Literaturherbst gelesen.

Zu einem Kurzbesuch ist Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk nach Göttingen gekommen. Nach der Ausstellungseröffnung am Samstag stellte er am Sonntag beim Literaturherbst im ausverkauften Deutschen Theater sein Istanbul vor. „Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal“: Pamuk identifiziert sich mit seiner Stadt. Hatten ihn anfangs die Buchkritiker irritiert, die ihn immer als Schriftsteller Istanbuls bezeichneten, wurde Pamuk mit der Zeit bewusst, dass sie recht hatten. Allerdings mit einer wichtigen Korrektur: „Mir ging es nicht darum, über die Stadt Istanbul und ihre prächtigen Paläste zu erzählen, sondern über die Menschen, die dort leben.“

Gesprächspartner Pamuks auf der DT-Bühne war NDR-Redakteur Jan Ehlers, ein profunder Kenner des Pamukschen Werkes. Für die reibungslose Kommunikation mit dem Publikum sorgte Pamuks Landsmann Recai Hallaç, nicht nur ein brillanter Simultandolmetscher, sondern auch als Schauspieler und Übersetzer literarischer Texte aktiv.

Um zwei Bücher Pamuks ging es an diesem Abend: „Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt“, erschienen im Hanser Verlag, und „Balkon“, einen Band mit knapp 500 Farbfotografien, die Pamuk 2012/13 vom Balkon seiner Wohnung in Istanbul aufgenommen hat. Der Istanbul-Prachtband enthält Schwarzweiß-Fotografien von Ara Güler, Henri Cartier-Bresson, dem jungen Orhan Pamuk und anderen. Auch mit einem deutschen Künstler des 19. Jahrhunderts setzt sich Pamuk in diesem Buch auseinander, mit Anton Ignaz Melling, der 1819 einen Bildband unter dem Titel „Malerische Reise in Konstantinopel“ veröffentlichte. Schon damals habe Melling keine orientalischen Klischees dargestellt, sondern Menschen so gezeigt, wie sie sind.

Die Menschen in der Türkei hätten zwei widerstreitende Gefühle, zum einen die Sehnsucht nach der europäischen Kultur, nach Modernität, zum anderen aber die Verwurzelung in der eigenen, uralten Tradition. Das habe in der Vergangenheit zu einer ganz eigenen Art von Melancholie oder Wehmut geführt, die auf Türkisch mit dem Wort „hüzün“ bezeichnet wird. Etwas von diesem „hüzün“ wolle er in den ausgewählten Fotografien des Istanbul-Bandes anschaulich machen. Güler stelle in seinen Fotos der großen Vergangenheit Istanbuls die damalige ärmliche Gegenwart gegenüber. Heute sei das anders: „Die Demografien ändern sich, die Aura ändert sich, die Stadt ist reicher geworden.“

Deshalb macht er jetzt auch keine Schwarzweiß-Bilder mehr, sondern Farbfotos. Zur Fotografie sei er als Kind gekommen, 1962 habe ihm sein Vater den ersten Fotoapparat geschenkt. 2012 habe er sich eine Digitalkamera gekauft und sei davon so begeistert gewesen, dass er rund 8.500 Bilder vom Balkon seines Arbeitszimmers geschossen habe.

Irgendwann habe er zufällig den Verleger Gerhard Steidl kennengelernt und ihm die Fotos gezeigt. „Er hat gesagt: Wenn du es schaffst, sie auf 600 zu reduzieren, dann machen wir ein Buch daraus.“ Er habe die Fotos gemacht, um seine Stadt zu zeigen. Warum?, will Jan Ehlers wissen. Pamuk: „Das war ein dunkler Trieb.“

Bilder des Literaturnobelpreisträgers und Fotografen Orhan Pamuk hängen zur Eröffnung der Fotoausstellung
Bilder des Literaturnobelpreisträgers und Fotografen Orhan Pamuk hängen zur Eröffnung der Fotoausstellung "Balkon" im Günter Grass Archiv in Göttingen. © dpa | Peter Steffen

Eine Auswahl der Bilder ist derzeit in Göttingen zu sehen. Die Ausstellung „Balkon“ eröffnete Pamuk am Samstag im Günter Grass Archiv. Einen Winter lang hat Orhan Pamuk ständig auf seinem Balkon in Istanbul fotografiert: Mehr als 8.500 Farbaufnahmen machte der Schriftsteller mit einem Stativ, immer aus dem gleichen Blickwinkel. Zu sehen ist der beeindruckende Ausblick über den Bosporus im Morgen- oder Abendlicht, bei Nebel, Smog oder im Schneesturm. Vögel fliegen, Schiffe ziehen vorbei.

Aus der Flut von Bildern, die auf diese Weise entstanden sind, wählte Pamuk knapp 500 aus und gestaltete mit dem Göttinger Verleger Gerhard Steidl das Buch „Balkon“ sowie die gleichnamige Ausstellung. Sie ist bis zum 2. November zu sehen. Danach wird eine Auswahl der Bilder in New York und ab Januar in Istanbul präsentiert.

„Es ist ein Roman in Fotografieform“, sagte Steidl über das Buch, für dessen Gestaltung Pamuk nach Göttingen reiste. Die Bilder seien ähnlich wie in einem Comic angeordnet. Der Betrachter werde geschult, genau hinzuschauen und komme auf diese Weise den Geheimnissen von Istanbul auf die Spur.

Pamuks Werk wurde in etwa 100 Ländern und in mehr als 30 Sprachen veröffentlicht. 2006 erhielt er den Literaturnobelpreis. Ursprünglich wollte der Literat Maler werden, laut Steidl fotografiert er seit seinem 16. Lebensjahr professionell. „Ich habe selten gesehen, dass jemand so präzise mit Fotos erzählt“, sagte der Verleger. „Das ist bemerkenswert.“